Edward Elgar
The Dream of Gerontius op. 38, Urtext, Partitur
Es war im Februar 2020. Just an dem Tag, als Barbara Mohn, Lektorin beim Carus-Verlag, nach Birmingham fuhr, um das Autograf von Edward Elgars The Dream of Gerontius anzusehen, traf sie den Fotografen der British Library, der soeben die Fotoarbeiten für die Digitalisierung des Werks abschloss. Elgar hatte die Partitur dem Birmingham Oratory überlassen, wo der Autor des geistlichen Poems, das dem Werk zugrunde liegt, Cardinal John Henry Newman, begraben ist. Sie registrierte die wichtigsten Kennzeichen der überaus sorgfältigen, sauberen Handschrift und fuhr zurück nach Süddeutschland — in den Lockdown. Die folgenden zwei Jahre widmete die Lektorin einem Vorhaben, für das endlich die Zeit reif war: der kritischen Neuausgabe von Elgars The Dream of Gerontius opus 38, aus dem Jahr 1900. Partitur und Klavierauszug sind bereits gedruckt, auch als Download erhältlich; die Stimmen werden im August 2022 vorliegen.
Im umfassenden, spannend zu lesenden Vorwort zur Urtext-Ausgabe berichtet Barbara Mohn von der wechselvollen Entstehungsgeschichte des Werks. Der Komponist bekam unschätzbare Unterstützung von seiner tatkräftig mitarbeitenden Frau Alice und seinem Freund August Jaeger, der seine Werke beim Londoner Verlag Novello betreute. Von Rückschlägen ließ sich Elgar leicht entmutigen. Darauf deutet auch eine Bemerkung des Dirigenten der Uraufführung, Hans Richter, auf der autografen Partitur hin: „Let drop the Chorus, let drop everybody — but let not drop the wings of your original Genius!“ Zu Deutsch etwa: Lass nie deine Flügel hängen!
Die teils ungenügende Uraufführung beim international renommierten Musikfest in Birmingham am 3. Oktober 1900 hörte der deutsche Dirigent Julius Buths und setzte sich in der Folge vehement für Gerontius ein, erstellte auch eine deutsche singbare Fassung. Buths leitete das Werk in den beiden Folgejahren in Düsseldorf, auch Richard Strauss gab seinen Segen. Von hier aus wurde es im Vereinigten Königreich zu einem Standardwerk großer Oratorienchöre.
Eine Umfrage hat ergeben, dass zunehmend auch Chorleiterinnen und -leiter hierzulande ihren Fokus auf Elgars Gerontius legen, berichtet Barbara Mohn. Das Sujet erfordert geistige Offenheit, denn in der Handlung des „Traums“ wird erzählt, wie ein Mann sein Sterben und danach seinen Weg ins Jenseits, hin zu Gott, erlebt. Welche Fragen er hat, wie er von einem Engel getragen wird, wie sich die Pforten des Gerichts öffnen, wie er einen schrecklichen Chor von Dämonen hört, wie er dem weisen „Angel of the agony“ (Engel der Todesnot) begegnet. Kein klassisches Oratorium also, sondern ein durchkomponiertes Opus mit herausfordernden Chor- und Solopartien sowie einem anspruchsvollen Orchesterpart; Aufführungsdauer ca. 100 Minuten. All das lässt sich nun studieren in der neuen, wunderbar lesbaren Ausgabe bei Carus, ergänzt um das Libretto und einen sorgfältigst dokumentierenden kritischen Bericht. „This is the best of me“, notierte Elgar nach dem Schlussstrich.
H. D. Immentun