Henri Marteau
The Complete Works for String Quartet I
Quartet No. 2 op. 9/Huit Mélodies op. 19. Karine Deshayes (Mezzosopran), Isasi Quartet
Eine vorgetäuschte Krankmeldung stand am Beginn der Karriere des Geigers Henri Marteau. Sein Lehrer Hubert Léonard sagte 1884 ein Konzert in Reims wegen angeblicher Unpässlichkeit absichtlich ab – nur um seinen zehnjährigen Schüler als Ersatz zu empfehlen. Der Sprung ins kalte Wasser brachte den erhofften Erfolg. Marteau konnte sich vor 2000 Zuhörern in Vieuxtemps’ 5. Violinkonzert als vielversprechendes Jungtalent profilieren. Für ihn begann eine Glanzzeit als Virtuose, später auch als Pädagoge. Er eroberte die internationalen Konzertpodien und wurde, erst 26-jährig, Professor für Violine in Genf, dann ab 1908 in Berlin. In Deutschland fand er seine zweite Heimat – was zugleich sein Verhängnis wurde. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt er in Deutschland als Spion, in Frankreich als Landesverräter. Marteau wich nach Schweden aus, kehrte später nach Deutschland zurück und lehrte bis zu seinem Tod im Jahr 1934 in Leipzig, Prag und Dresden. Daneben fand er noch Zeit zum Komponieren: Es existieren 45 mit Opuszahlen versehene Werke, überwiegend Lieder und Kammermusik.
In das Streichquartettschaffen von Marteau hat sich jetzt das Isasi Quartet vertieft, benannt nach Andrés Isasi, einem spanischen Komponisten der Spätromantik. Dessen Streichquartette haben die Vier bereits auf CD eingespielt – nun sind die drei Quartette Marteaus an der Reihe, eine weitere Pioniertat. Die erste CD der Reihe, eine Koproduktion zwischen dem Label cpo und dem Bayrischen Rundfunk, enthält das zweite Quartett in D‑Dur mit der Opuszahl 9, das 1905 entstand. Nur ein Jahr zuvor hatte Marteau seinen Streichquartett-Erstling in Des-Dur op. 5 komponiert. Das dritte Quartett in C‑Dur op. 17 schließlich entstand 1916.
Das zweite Quartett gehöre mit dem Cellokonzert op. 7, der Chaconne für Viola und Klavier, dem Streichtrio op. 12 und anderen zu einem „ersten Schaffenskern“ im Marteau’schen Œuvre, schreibt Jürgen Schaarwächter vom Max-Reger-Institut in Karlsruhe in seinem lesenswerten Bookletbeitrag. Die Nähe zu Max Reger, mit dem Marteau eine intensive Freundschaft verband, sei besonders im Quartett in D‑Dur „mit den Händen zu greifen“. Die kontrapunktische Dichte und das reiche variative Leben, das die Motive im Kopfsatz entfalten, sind auffällig. Marteau erzielt hier eine ungemein expressive Musik, in der thematisches Material und figuratives „Flechtwerk“, ähnlich wie in manchen Jugendstilmotiven, gleichwertig sind. Die glutvolle Interpretation des Isasi Quartet bringt diese Qualitäten aufs Schönste zur Geltung.
Gleiches gilt für die Sopranistin Karine Deshayes, die den Huit Mélodies für Mezzosopran und Streichquartett op. 19 (nach Gedichten von Sully Prodhomme und François Coppée) mit berückendem lyrischen Schmelz, aber auch packender Dramatik zu eindringlicher Wirkung verhilft.
Das Ausdrucksspektrum des Streichquartettsatzes reicht von schlichtem Pizzicatoteppich bis zu orchestralen Texturen. Schaarwächter sieht hier „die Summation“ von Marteaus Schaffen. Dessen Musik, das macht diese CD deutlich, verdient größere Beachtung in den Konzertprogrammen.
Mathias Nofze