Ludwig van Beethoven

The Complete Symphonies

Kammerakademie Potsdam, Ltg. Antonello Manacorda

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 1/2025 , Seite 71

Auch in Zeiten der Streamingdienste und des allgegenwärtigen überbordenden Musikkonsums (oder vielmehr gerade in solchen!) ist es eine genussvolle Erfahrung, sich in aller Ruhe mit einer neuen, umfangreichen CD-Produktion zu befassen, sich zu Hause mit der Partitur hinzusetzen und die altbekannten und doch notorisch aktuellen Werke aufmerksam anzuhören.
Es stellt sich dann beispielsweise heraus, dass manches doch nicht so bekannt ist, wie man selbst dies im Vorfeld vermutet hatte; nicht jeder hat bspw. das Scherzo der 4. Sinfonie von Beethoven sofort parat… Vor allem aber ist es verblüffend zu hören, wie frisch, wie neu, wie luzide und peppig die Werke daherkommen. Hält man seine Eindrücke etwa in einem kleinen Hörprotokoll fest, dann wimmelt es dort von Bemerkungen wie „schön schlank, rasch, dynamisch, nie dicke Textur, witzig, rasant, unglaublicher Drive, messerscharfe Artikulation, sehr präsent, großartig“.
Bemerkungen dieser Art betreffen naturgemäß eher die schnellen Sätze, also, pragmatisch betrachtet, knapp drei Viertel des hier zu besprechenden Gesamtwerks. Aber auch in den langsamen Sätzen gibt es sehr viel Schönes zu entdecken und zu bewundern, etwa den harmonischen Registerausgleich im zweiten Satz der ersten Sinfonie, die wunderbare Szene am Bach oder im zweiten Satz der 9. Sinfonie. Schöner, anrührender kann man dies kaum zu hören bekommen!
Es gelingt dem Dirigenten Antonello Manacorda und seiner Kammerakademie Potsdam, die perfekte Synthese aus schwer und leicht, lyrisch und dramatisch herzustellen. Die Orchesterbesetzung ist etwas kleiner als gewöhnlich, vor allem der Streicherapparat tritt zugunsten der Bläser und der in diesen Aufnahmen auffallend präsenten Pauke deutlich zurück; der „Sound“ dürfte so dem Klangbild aus der Beethoven-Zeit relativ nahekommen, auch wenn hier nicht auf historischen Instrumenten musiziert wird. Die vorliegenden Aufnahmen können Anhängern der historisch informierten Aufführungspraxis ebenso empfohlen werden wie den Karajan- oder selbst Furtwängler-Sozialisierten.
Zwei kleine Einwände am Schluss: Nicht immer ist die Abstimmung im Piano-/Pianissimo-Bereich perfekt; manchem Ruhepunkt geht so buchstäblich die Luft aus – oder man muss mit dem Lautstärkeregler nachhelfen. Auch der instrumentale Beginn des Finalsatzes der 9. ist nicht frei von Abstimmungsproblemen. Der zweite Punkt betrifft paradoxerweise gerade die Rasanz und technische Perfektion der Interpretationen: Spätestens wenn man die Hälfte der Sinfonien gehört hat, weiß man, wie etwa die Scherzi und Finalsätze der übrigen ablaufen werden (und sieht sich dann bestätigt). Diese Berechenbarkeit der Interpretation beißt sich, wie ich meine, mit der Individualität eines jeden Werks.
Ulrich Bartels