Gustav Mahler
The Complete Symphonies
Stuttgarter Philharmoniker, Dortmunder Philharmoniker, Ltg. Gabriel Feltz
Für Gabriel Feltz war es das Projekt eines ganzen Jahrzehnts, das erst durch diese Zusammenstellung in seiner Gesamtanlage erlebbar wird: alle Sinfonien Gustav Mahlers, aufgenommen zwischen 2008 und 2019 vor allem mit den Stuttgarter Philharmonikern, die Feltz von 2004 bis 2013 als GMD leitete; außerdem die Sinfonien 8 und 9 mit den Dortmunder Philharmonikern, deren Chefdirigent er seit 2013 ist. Alle Mahler-Sinfonien auf CD: Wer braucht das angesichts zahlloser Konkurrenzeinspielungen, könnte man ketzerisch fragen.
Oder umgekehrt: Was braucht es, um ausgerechnet mit Mahler auf dem gesättigten Klassik-Markt zu bestehen? Drei Dinge vor allem: klare musikalische Vorstellungen, exzellente Orchester und dazu einigen Mut. Die Aufnahmen der Mahler-Sinfonien sind nun allesamt in Konzerten entstanden, in ihrer Anmutung also höchst authentisch, freilich mit der Hypothek möglicher spieltechnischer Schwächen belastet. Die Stuttgarter Philharmoniker sind über diese Zweifel erhaben und präsentieren sich als nervenstarkes, in allen Registern ausgewogenes Orchester, das die Ideen von Feltz mustergültig umsetzt. Die Welt in ihrer ganzen Schönheit und Hässlichkeit, mit jähen Kontrasten, Momenten des Glücks und der Trauer, der Hoffnung und der Zerstörung abzubilden war das Anliegen Mahlers, der zugleich die Vergangenheit beschwor, die Gegenwart feierte und die Zukunft aufscheinen ließ. Für Gabriel Feltz sind die Sinfonien weniger Werke der Avantgarde und des Zerfalls als vielmehr gewaltige, sinnliche Klanggemälde, deren Feinheiten und klanglichen Extremen er tiefer nachspürt als die meisten anderen Dirigenten. Basis dieser Herangehensweise sind Präzision und Kontrolle, die emotionalen Furor einhegen. Selten sind Ausbrüche über die Kontrollgrenze hinaus zu hören, wie im letzten Satz der zweiten Sinfonie. Betont bedächtige Tempi sind nicht selten. Bei Feltz rückt Mahler mit fein abgestuftem Mischklang näher an Wagner und Richard Strauss heran. Herrlich schwingen viele der langsamen Sätze.
Dennoch, und das ist eigentlich auch ganz natürlich, erreichen nicht alle Einspielungen das gleiche hohe Niveau. Großartig gelingen, auch hinsichtlich der Aufnahmetechnik, die Sinfonien 1 bis 3, 5 bis 7 und 10, während die vierte zu selbstverliebt rokokohaft daherkommt. Die Dortmunder Philharmoniker überzeugen in ihren Aufnahmen der achten und neunten Sinfonie weniger – hier sind die technischen Einbußen der Live-Aufnahme deutlich stärker.
Informativ ist das Booklet, in dem Texte von unterschiedlicher Faktur zu jeder Sinfonie nachzulesen sind; in ihnen nimmt Gabriel Feltz auch persönlich Stellung. Eher ungewöhnlich: eine Gesamtrezension des Zyklus’ von Volker Hagedorn, natürlich ohne Kritik, dafür mit der falschen Zuordnung des Orchesters (Stuttgart wäre richtig) bei der zehnten Sinfonie.
Johannes Killyen