Nielsen, Carl August
The Complete Symphonies 1-6
hr-Sinfonieorchester, Ltg. Paavo Järvi
Ist den zahlreichen Einspielungen der Sinfonien Carl Nielsens, die als sperrig gelten und in seinem Gesamtwerk eher auf einsamem Posten stehen, eine völlig neue Interpretation abzugewinnen? Tatsächlich zeichnen sich die von 2009 bis 2013 reichenden Aufnahmen des Frankfurter hr-Sinfonieorchesters weniger durch Originalität als vielmehr durch Ausgewogenheit aus. Dabei werden kleinteilige Schwankungsnuancen in den Partituren hörbar, die früher einem breiten Pinselstrich zum Opfer gefallen sein mögen. Der Eindruck mag aufgrund der in den vergangenen zwanzig Jahren technisch verbesserten Trennschärfe allerdings täuschen: Denn spezifische Anforderungen wie allmähliches Ritardando und rapides Crescendo erlauben Spielräume nur in Grenzen; mithin ist bei einer präzisen Beachtung der Vorgaben, wie sie Paavo Järvi realisiert, interpretatorische Beweglichkeit nur bedingt möglich.
Größere Aufmerksamkeit muss daher dem generellen Ansatz gelten: Die in den Aufführungen der Sinfonien häufig auf die Spitze getriebenen melodischen Aufstiegssequenzen sind, wie der amerikanische Musikwissenschaftler David Fanning feststellte, Eigenheiten von Nielsens Sinfonik auch gegenüber derjenigen seines skandinavischen Pendants Jean Sibelius. Prototypisch für Erstere ist die auf einem Griechenland-Erlebnis beruhende Helios-Ouvertüre, die dem Sonnenaufgang über dem Meer geweiht ist. Doch meidet Järvi eine bis in die 1990er Jahre einem gewissen Sensationsbedürfnis geschuldete Ausreizung dynamischer Extreme.
Sein Interesse gilt mehr der Positionierung eines angeblich neurotisch-impulsiven Außenseiterkomponisten in einen spätromantischen Kontext, der eher auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück- als vorausweist. Deshalb klingt hier einerseits vieles wie in Dvoráks Orchesterwerken. Zum anderen strebt der älteste Sohn Neeme Järvis, der gerne auf nordische Programme rekurriert, ein rhythmisch wogendes, dem Wesen des jeweiligen Satzes genau entsprechendes Metrum an. So entstehen tänzerisch gemessene Bewegungen, die dem Jähen und forsch Vorwärtstreibenden, das Nielsens Sinfonien zugeschrieben wird, geradezu widersprechen. Auch in den getragenen Partien wie im Andante malincolico der 2. Sinfonie verzichtet diese Annäherung auf bombastische Wirkungen.
Es gilt bei aller Rücksicht auf die höchst unterschiedlichen Programme, die von der Charaktertypologie über die 4. Sinfonie bis zur Sinfonia semplice reichen und damit auch dem langen Entstehungszeitraum von
34 Jahren zuzuschreiben sind, dass hier nach einem gemeinsamen Nenner gesucht wird. Da aber Leben wie Werk des heimatbewussten Dänen von der Insel Fünen durch Wechselfälle geprägt sind, handelt es sich um ein schwieriges Unterfangen. Auch im Vergleich zu Herbert Blomstedts Ansatz und der Interpretation des jungen Esa-Pekka Salonen vor nunmehr 30 Jahren fällt diese Gesamteinspielung als Versuch einer werkübergreifenden zusammenfassenden Deutung ab.
Hanns-Peter Mederer