Michael Tilson Thomas

The Complete Columbia, Sony and RCA Recordings

London Symphony Orchestra, English Chamber Orchestra, ­Philharmonia Orchestra, Cleveland Orchestra, New York ­Philharmonic Orchestra, San Francisco Symphony Orchestra, Ltg. Michael Tilson Thomas

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 4/2025 , Seite 71

Andere Dirigenten, für die entsprechendes Repertoire reserviert war, waren offenbar nicht selten Grund dafür, dass Michael Tilson Thomas trotz seiner reichen Interpretentätigkeit im Schallplattenstudio vieles nicht einspielte – von Gustav Mahler etwa nur die Rückert-Lieder und die Sinfonien 3 (mit Janet Baker) und 7, beide mit dem London Symphony Orchestra. Während jene der dritten Sinfonie heute zu den Kerneinspielungen zählt, blieb jene der Siebten eher im Schatten – sie ist exakt und fein ausgehört, aber vielleicht nicht ganz so magisch in der Gesamtatmosphäre. Ein anderes typisches Beispiel, wie Thomas in Repertoire-Nischen ausweichen musste, ist seine Referenzeinspielung von Debussys Musik zu Le Martyre de Saint Sébastien, gleichfalls mit dem London Symphony Orchestra. Von Giacomo Puccini durfte er Tosca einspielen (mit Éva Marton, José Carreras und Juan Pons, aber „nur“ in Budapest), von Tschaikowsky legte er die Manfred-Sinfonie und das Ballett Schwanensee vor, dazu drei Orchestersuiten. Für die Beethoven-Sinfonien arbeitete er mit dem English Chamber Orchestra zusammen – Ergebnis sind äußerst klare und konzise Interpretationen, rhythmisch exakt, mit herrlich ausschwingenden Bögen etwa im Adagio molto der neunten Sinfonie.
Es gab nur einige Bereiche, wo sich Michael Tilson Thomas für Columbia/RCA/Sony voll entfalten konnte: Das war die Musik von Stravinsky, George Gershwin und Charles Ives. In Boston, London und San Francisco entstanden Einspielungen zahlreicher Ballette, von Pétrouchka (zweimal) bis Agon, und der Sinfonien. Die drei CDs aus San Francisco für RCA sind in Europa nie recht bekannt geworden, obschon sie höchsten Ansprüchen genügen und gerade Perséphone zu den besten Einspielungen des Werks überhaupt zu zählen ist. Seit 1981 entstand nach einer kritischen Neuedition eine neue Gesamteinspielung der Sinfonien von Charles Ives, die unmittelbar Referenzstatus erlangte, ob ihrer inneren Lebendigkeit intellektuellen Durchdringung. In Chicago spielte Thomas 1986 die originale und die revidierte Version von The Unanswered Question ein, der Vergleich ist frappierend.
In seiner doppelten Eigenschaft als Pianist und Dirigent war George Gershwin für Michael Tilson Thomas faszinierend, und gleich die erste Produktion 1976 enthielt als besonderes Experiment die Rhapsody in Blue in Gershwins eigener Einspielung auf Klavierreproduktionsrolle von 1925, in äußerst sprechenden Dialog gebracht mit der Columbia Jazz Band (in äußerst flexibler Tempowahl). Zwei weitere Male hat Thomas die Rhapsody in Blue eingespielt, in Personalunion als Pianist und Dirigent.
Im Januar 2024 gab Michael Tilson Thomas, der seit einigen Jahren an einem Hirntumor leidet, sein letztes Konzert mit dem San Francisco Symphony Orchestra.
Jürgen Schaarwächter