John Borstlap

The Classical Revolution

Thoughts on New Music in the 21st Century. Revised & expanded Edition

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Dover Publications, Mineola/New York 2017
erschienen in: das Orchester 10/2018 , Seite 62

John Borstlab ist Komponist. Weder frustriert noch im Elfenbeinturm lebend analysiert er in seinem ursprünglich 2013 erschienenen und jetzt überarbeiteten Buch die jüngsten Entwicklungen und die aktuelle Lage neuer Musik. Einleitend stellt er fest, dass irgendetwas falsch gelaufen sein muss in den ver­gangenen hundert Jahren. Etwas, das dazu geführt hat, dass die sogenannte zeitgenössische Musik in einer Sackgasse feststeckt, überwiegend nur noch von Spezialensembles für Spezialpublikum aufgeführt wird, sich aus einem breiteren Musikgeschmack und -betrieb letztlich verabschiedet hat. Starker Tobak also für die Rihms und Lachenmanns dieser Welt. Andererseits habe auch die einst so bewundernswerte klassische Aufführungskultur Europas vielfach Züge eines Museums angenommen, wenn man sich die Konzertprogramme anschaue.
Eine Lanze bricht Borstlap für die „neue klassische Musik“, die immer mehr Menschen (vor allem jün­gere) anspricht, weil sie tonal und zugänglich ist wie z.B. Filmmusik. Diese werde von zeitgenössischen Komponisten mit einer gewissen Arroganz und vom Feuilleton mit Argwohn betrachtet. Überhaupt sei die Abkehr von der Tonalität nach Schönberg wohl eines der zentralen Probleme neuer Musik. Denn Tona­lität als solche sei ja keine menschliche Erfindung, sondern ein physikalisches Phänomen. Natürlich gebe es auch in Anlehnung an die Popkultur in der neuen Klassik „Kitsch“ (wie in jeder Kunstform); dieser sei jedoch bloße Imitation ohne tieferen künstlerischen Wert. Im Konzertbetrieb wirkten Begriffe wie „zeitgenössische“ oder „moderne“ Musik fast schon wie Warnsignale an das Publikum. Nach dem Motto: „Das ist nichts für mich.“
Die Ausbildung jeglicher Form von Klangkunst („sonic art“) in den vergangenen Jahrzehnten versteht Borstlab als Frontalangriff auf Musik als Kunstform. Bloße akustische Klangflächen würden beim Zuhören gerade nicht eine psychologische Dimension oder eine tiefere Bedeutung erzeugen. Die Arroganz neuer Musik gegenüber der Vergangenheit sei vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und in Folge der 1968er Bewegung entstanden. Das Bewahren von Traditionen war bei der jüngeren Generation verpönt. Aus dieser Zeit stammen dann auch Beschreibungen des Konzertsaals als „Mausoleum für abgenudelte Klänge“ oder des „Silbersees“ für ein überaltertes und aussterbendes Publikum, welche über Jahrzehnte die kunstpolitische Debatte bestimmten.
Borstlap sieht einen Ausweg aus dem Dilemma neuen Musikschaffens in einer Besinnung auf eine neue europäische Identität.
Gerade vor dem Hintergrund von Flucht und Migration könne auch Musik hier eine wichtige Rolle spielen und sich dabei ruhig auf die Vergangenheit beziehen. So wie die römische Kunst sich einst auf die griechische bezog. Neue klassische Musik könne die Menschen ansprechen und damit insgesamt eine neue Relevanz gewinnen. Wen diese Überlegung überzeugt, der wird das Buch mit Gewinn lesen, sollte allerdings über gute Englischkenntnisse verfügen.
Gerald Mertens