Spitzer, John/Neal Zaslaw

The Birth of the Orchestra

History of an Institution, 1650-1815

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Oxford University Press, New York 2004
erschienen in: das Orchester 10/2004 , Seite 77

Die Geburt des Orchesters: Die Geschichte einer Institution von 1650 bis 1815 – ein ehrgeiziger Titel! Zwei Professoren renommierter amerikanischer Hochschulen (Peabody Conservatory und Cornell University) haben sich vorgenommen, die musikalische und soziale Entwicklung des Orchesters vom Barock bis zur Romantik zu beschreiben.
Kurz gesagt, das Buch hält alles, was es verspricht: Es ist eine wahre Fundgrube für jeden Orchestermusiker, der sich mit der Geschichte derjenigen Institution auseinander setzen möchte, der er sein berufliches Leben widmet, oder jeden, der eine erste Anlaufstelle braucht, um gezielt Verweise zur weiteren Beschäftigung mit Einzelaspekten dieser Geschichte zu suchen.
Motiviert durch das wachsende Interesse an der historischen Aufführungspraxis haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Musikwissenschaftler mit solchen Fragen beschäftigt: Seit wann gibt es eigentlich Orchester im modernen Sinn? Wie haben die Orchester funktioniert, für die Bach, Händel, Haydn oder Mozart komponierten? In welchem sozialen und akustischen Rahmen traten sie auf? Gab es Proben? Wie waren die Musiker ausgebildet? Wie muss man sich Qualität und Stil der Aufführungen in unterschiedlichen geografischen Regionen und Situationen vorstellen?
Spitzer und Zaslaw haben nun die verdienstvolle Aufgabe übernommen, die ungeheure Menge von Artikeln und Büchern zu solchen und verwandten Themen für uns zu sichten und auszuwerten. Ihre Leistung wird bereits am 40-seitigen Literaturverzeichnis deutlich, das grob gerechnet 800 Titel in vier Sprachen umfasst. Dies mag sich lediglich nach einer Fleißarbeit zweier Professoren mit Zugang zu guten Universitätsbibliotheken und Liebe zu guter Lektüre anhören. Aber das Buch ist weit mehr als eine bloße Materialsammlung. Das Autorenteam organisiert hervorragend die eigenen und fremden Forschungsergebnisse, präsentiert intelligente Analysen und räumt dabei mit lieb gewordenen Klischees auf.
So hat uns die heutige Praxis, Orchesterwerke des 17. und 18. Jahrhunderts – im Gegensatz zu denen des 19. Jahrhunderts – mit Miniorchestern aufzuführen, den objektiven Blick auf die Quellen etwas verstellt (S. 26). Die tatsächliche Spielstärke der Orchester war durch Aushilfen, unbezahlte Lehrlinge, Amateure und nicht zuletzt durch Musiker, die zwei und mehr Instrumente spielten, oft erheblich größer, als dies die viel zitierten, meist ziemlich mageren Gehaltslisten der Höfe und Theater erkennen lassen.
Aufführungen von barockem und klassischem Repertoire mit Orchestern von mehr als 60 Musikern waren denn auch keine Seltenheit. Und wo genügend Geld floss und die Akustik der Räume es zuließ oder gar forderte, gelangte man zu Orchestergrößen, die den Puristen heutzutage geradezu monströs erscheinen mögen. Eine weitere Überraschung sind die zahlreichen Archivquellen, die belegen, wie früh es bereits Orchester ohne Bindung an einen Hof oder ein Theater gab und wie verbreitet öffentliche oder halböffentliche Konzerte im 17. und 18. Jahrhundert waren.
Ganz spannend wird die Lektüre im letzten Drittel des Buchs: Wir
erfahren anhand von fünf „Fallstudien“, wie das Alltagsleben eines Orchestermusikers in verschiedenen europäischen Regionen aussah (anscheinend war es damals – anders als heute – in London am besten), wie er eine gute Stelle finden konnte, wie viele Dienste er pro Woche leistete, wie leicht oder schwer es ihm gemacht wurde, zugunsten einer Mugge eine Aushilfe zum festen Job zu schicken, wie viel er im Vergleich zu einem Hausdiener oder Beamten verdiente, wie er im Invaliditätsfall und im Alter oder seine Hinterbliebenen im Todesfall durch Sozialfonds abgesichert waren.
Aber auch die musikalischen Aspekte kommen bei Spitzer und Zaslaw nicht zu kurz. Natürlich kann man hier kein Lehrbuch zur Aufführungspraxis erwarten, aber trotzdem findet man viele Informationen zu den verschiedenen Spielweisen der Franzosen, Italiener und Deutschen, zur Internationalisierung des Orchesterstils während der Klassik, zum Einsatz verschiedener neuer Instrumente
(Oboe, Klarinette usw.) und zur Entwicklung eines speziellen Kompositionsstils für das neue Klangmedium.
All dies wird in einem Stil präsentiert, der wie in den meisten amerikanischen Veröffentlichungen „kundenorientiert“, d. h. klar und schnörkellos ist und somit auch für einen Leser mit begrenzten Englischkenntnissen kein großes Verständnishindernis darstellt. Der Umfang des Buchs und die großzügige Ausstattung mit Abbildungen und Notenbeispielen führen zu dem gerechtfertigt hohen Preis, machen den Band aber zu einem idealen (Weihnachts-)Geschenk. The Birth of the Orchestra wird sicher zu einem Standardwerk, und es bleibt nur die Frage, wer die Fortsetzung des Buchs schreibt: „Die Entwicklung des Orchesters von 1815 bis 2000“.
 
Martin Wulfhorst