Thomas Seedorf (Hg.)

Tenorissimo

Geschichte und Gegenwart Enrico Carusos

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: edition text + kritik
erschienen in: das Orchester 02/2024 , Seite 63

Als „Jahrhundertkünstler“ galt er, als Verkörperung des Belcanto-Mythos, als eine durchaus erfolgreiche Werbefigur, als „Marke“ gar. Anlässlich des 100. Todestages von Enrico Caruso (1873–1921) fand im Oktober 2021 an der Hochschule für Musik Karlsruhe ein interdisziplinäres Symposium statt. Hier hat man sich aus verschiedenen Blickwinkeln zu „Geschichte und Gegenwart“ mit dem Phänomen Caruso befasst und unter anderem auch mit der Frage: Ist es heute noch möglich, wie Caruso zu singen, der unter anderem in seinen 26 Karrierejahren 600 Vorstellungen in 37 Partien an der Met sang, wo man seine Stimme noch in der letzten Reihe deutlich hören konnte?
Im vorliegenden Band, dem ersten Versuch einer umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ausnahmeerscheinung Enrico Caruso im deutschsprachigen Raum, beschäftigen sich die teilnehmenden Symposium-Teilnehmer mit dem Leben Carusos unter ästhetischen, künstlerischen, musikmedizinischen, stimmphysiologischen und gesangspädagogischen Aspekten. Der von den Medien seiner Zeit gefeierte Jahrhundertkünstler mit dem großem Star-Image, mit dessen Konterfei man von der Briefmarke bis hin zur Pasta alles verkaufen konnte, wurde zum Urbild des „Tenorissimo“. Und damit zur Referenz für viele nachfolgende Tenöre, angefangen bei Giuseppe di Stefano, Franco Corelli über die Sänger der 1970er Jahre bis hin zu Jonas Kaufmann in unsere Zeit hinein. Obwohl Caruso in der globalen Opernwelt des beginnenden 20. Jahrhunderts durchaus dem Stereotyp eines Künstlers entsprach, der „nur singen, aber nicht schauspielen könne“ und dessen „Mythos“ wohl auf einem Missverständnis im außerwissenschaftlichen Diskurs fußte, der Gleichsetzung von Gesang und Stimme. Aufgrund der Analyse noch vorliegender Aufnahmen wurden aus Sicht der Stimmwissenschaft organische und funktionelle Charakteristika von Carusos Stimme untersucht, deren „Klangschönheit“ man sich auch heute nicht verschließen kann.
Dass Caruso historiografisch als Figur des Übergangs vom Belcanto zum veristischen Gesang mit all seinen spezifischen Stilmitteln wie naturalistischen Effekten, Schluchzern und Portamenti galt, wurde herausgestellt keineswegs als „stimmlicher Niedergang“, sondern als ein Zeichen einer stimmlischen Kontrolliertheit, mit der Caruso veristische Effekte meist in die vokale Linie integrierte und nicht zur „naturalistischen Hemmungslosigkeit“ steigerte. Dieses Maßhalten zwischen den beiden Stilprinzipien ist es, das Carusos Stellung als absolute „Ausnahmeerscheinung“ durchaus rechtfertigt.
Dagmar Zurek