Astor Piazzolla

Tango Nuevo – eine sinfonische Hommage

Lothar Hensel (Bandoneon), Neue Philharmonie Westfalen, Ltg. Rasmus Baumann

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: HD-Klassik
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 76

Von ihrer vorigen CD Russische Troika ist der Sprung der Neuen Philharmonie Westfalen über den Atlantik nach Argentinien fast ein Heimspiel. Denn das Bandoneon, von Astor Piazzolla zu „seinem“ Virtuoseninstrument des Tango Nuevo inthronisiert, wurde durch Hans Band in Krefeld entwickelt und 1849 von dem Instrumentenbauer Carl Zimmermann im erzgebirgischen Carlsfeld gebaut. Bis heute ist dort in Klingenthal der Sitz einer Instrumentenfabrik. Von dort schaffte es das ursprünglich Concertina genannte Instrument über eine Ausstellung in London mit neuem Namen nach Südamerika. Das Orchester des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen holte sich mit dem im Piazzolla-Jubiläumsjahr äußerst gefragten Lothar Hensel einen Bandoneon-Virtuosen, der mit Piazzollas Concierto para bandoneón weitaus häufiger aufgetreten ist als der Komponist selbst.
Die in dramatischen Regionen versierte Neue Philharmonie Westfalen hat – was die Ursprünge der aufgeführten Werke angeht – ein springlebendiges Repertoireverhalten. Mit geballter Gründlichkeit nähert sie sich den neben Piazzollas Oper Maria de Buenos Aires immer häufiger gespielten Werken. GMD Rasmus Baumann kitzelt das Kolorit aus den kaum noch lastenden oder schwebenden Klängen heraus. Aber nicht immer ist genau auszumachen, wo die Neue Philharmonie Westfalen tatsächlich verhalten ist und wo doch so etwas wie latente Leidenschaft aus den Streicherbahnen drängt.
Baumann gestaltet Piazzolla als groß besetzte Kammermusik und nimmt dessen sinfonischen Groove ohne Plakativität. Er findet dissonanzstarke Reibungsflächen dort, wo man in der Geburtsstadt des Tango Nuevo bei einer Milonga mit professionellen Musikensembles mehr im Hintergrund vibrierende als enervierende Widerstände vernehmen könnte. Trotz Film- und Animationsfilmerfahrung wird das philharmonische Kochfeld nicht einmal an seinem Mittelpunkt, den tiefen Streichern unter dem Bandoneon, rotglühend. Dafür entwickeln die Hölzer in Piazzollas originären Kombinationen einen Klang wie trockener Sherry mit minimaler Schärfe und leichter Säure. Diese Trockenheit und geschärfte Helligkeit bereitet ein sprödes Vergnügen.
Adios Nonino wurde von Lothar Hensel nach einem Arrangement José Bragatos für Bandoneon und Streichorchester in eine spielbare Fassung gebracht. Da gönnt sich die Neue Philharmonie Westfalen eine kurze und dynamisch gut durchdachte Verdichtung. Der Tango Oblivion erklingt in einer Fassung des venezolanischen Dirigenten Eduardo Marturet. Insgesamt klingt dieses Album nach einer Straße, in der gründlich aufgeräumt und viele Geruchsspuren beseitigt wurden. An den Fassaden veränderte man nichts. Diese Reinigung bringt einige Strukturen zutage, die man zwar kennen, aber nicht unbedingt sehen oder spüren muss. Gestaltungswillen zeigt diese CD, weil sie sich nicht mit stilistischen Imitationen zufrieden gibt und Piazzolla mit dem legitimen Selbstbewusstsein eines kompetenten Klangkörpers die hörenswerte Reverenz erweist.
Roland Dippel