Vieru, Anatol

Symphony VI “Exodus” op. 112/ Memorial op. 118

Romanian Radio Symphony Orchestra, Ltg. Horia Andreescu, Romanian Radio Chamber Orchestra, Ltg. Ludovic Bács

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Troubadisc TRO-CD 01446
erschienen in: das Orchester 09/2015 , Seite 80

Wie andere rumänische Komponisten – und schon deren Stammvater George Enescu (1881-1955) – musste auch der 1926 geborene Anatol Vieru ein „Alleskönner“ sein, um sich einen Namen und eine Stimme zu verschaffen. Als Komponist und Dirigent, als Wissenschaftler und Opernintendant, als Pädagoge, Musikästhetiker und als Redakteur hat er sich vielseitig engagiert und wurde dafür oft gewürdigt – zuletzt 1996 für sein Gesamtwerk mit dem „Marele Premiu al Uniunii Compozitorilor ?i Muzicologilor din România“. Im Ausland fand er mit dem Kompositionspreis „Reine Marie-José“ (Genf 1962), einem Kompositionsauftrag der Koussevitzky-Stiftung (New York 1966) und dem Herder-Preis (Hamburg 1986) Anerkennung.
Zu verdanken hat das Vieru auch seiner vielfältigen Ausbildung: Von 1946 bis 1951 studierte er an der Bukarester Musikhochschule bei Paul Constantinescu, Constantin Silvestri und Leon Klepper und von 1951 bis 1954 am Moskauer Konservatorium bei Aram Chatschaturjan Komposition. Er besuchte die Darmstädter Ferienkurse, bei denen er später als Dozent auftrat, war 1973 Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in West-Berlin und promovierte 1978 mit der Arbeit Von den Modi zu einem Modell des musikalischen Intervalldenkens, die sein theoretisches System ebenso wie sein (von mathematischen Operationen bestimmtes) Komponieren begründete. Das umfangreiche Schaffen – u.a. sieben Sinfonien, acht Streichquartette, vier Opern, Konzerte und Kammermusik – integriert Folklore und Modi, Serielles und Elektronisches, und Titel wie Sonnenuhr (clepsidra), Sieb (site) und Schirm (écran) verweisen auch auf die mannigfaltigen Verfahren und Formen, musikalische Parameter zu organisieren.
Die 6. Sinfonie (1988/89) und das Memorial (1990), die jetzt als exzellente, eindringliche und beeindruckende Weltersteinspielungen vorliegen, liefern mit ihren originellen Konstruktionen und Klangbildern ein Paradebeispiel für Vierus universelles Musikdenken: Tangochaconna vereint die alte barocke Variationsform, deren harmonische Abfolge ein zwölftöniger Akkord vorgibt, mit Tanzmusik aus der neuen Welt, dem Sehnsuchtsort europäischer Emigranten. Der Tenebrae-Klang von Exodus erfährt vielerlei aleatorische und geräuschhafte Kontrastierungen, ehe er sich sphärisch auflöst. San Antonio de la Florida nutzt Fresken des spanischen Malers Francisco de Goya als Anregungen für eine konfliktreiche Abfolge von psalmodierenden Soli und den aggressiven Marschrhythmen der Massen. Nur im letzten Satz „Pale Sun“ (Bleiche Sonne) zeigt sich in hellen Farben, Glockentönen und Vogelgezwitscher ein „Schatten von Hoffung“. Und diese Verschmelzung verschiedenster Klangelemente wird auch im Memorial für die Opfer des Holocaust zu einem „Sinnbild für die Koexistenz unterschiedlicher Seinsformen: eine mit Klängen gestaltete Utopie“ (Thomas Beimel). Für Vieru, der 1941 die Ermordung von 12000 jüdischen Mitbürgern in seiner Geburtsstadt Ia?i miterleben musste und der 1998 in Bukarest starb, blieb das Bild des Exodus als „Emblem dieses bewegten Jahrhunderts“ zeitlebens gegenwärtig.
Eberhard Kneipel