Gustav Mahler
Symphony Nr. 6
MusicAeterna, Ltg. Teodor Currentzis
Ein sibirisches Orchester, das mit einer Aufnahme von Gustav Mahlers sechster Symphonie auf den deutschen Schallplattenmarkt drängt – das mutet skurril an. Die Geschichte des Ensembles MusicAeterna und seines griechischen Dirigenten Teodor Currentzis ist jedoch eine besondere.
Currentzis, Jahrgang 1972, ist Dirigent und Schauspieler und wird seit einiger Zeit als neuer Heilsbringer der klassischen Musik gehandelt. Extreme Ansichten, extreme Interpretationen, exzentrisches Auftreten. „Ein genialischer Tanzbär, der poltert und prustet, wild gestikuliert und herrisch auftrumpft“, schrieb der Tagesspiegel. Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln. Seine Konzerte und Aufnahmen spalten, begeistern.
Currentzis hat am St. Petersburger Konservatorium Dirigieren studiert und war dann Chefdirigent an der Oper in Nowosibirsk, ab 2011 Musikdirektor in Perm, einer Stadt mit einer Million Einwohnern. Das dortige Orchester hob er auf ein Niveau, das es tauglich für Konzerttourneen nach Europa, Japan und in die USA machte. Nach mehreren Jahren als erster Gastdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg debütierte der Grieche 2017 bei den Salzburger Festspielen und ist seit September 2018 Chefdirigent des vereinigten SWR Symphonieorchesters.
Mit MusicAeterna hat sich der vom Magazin Opernwelt als „Dirigent des Jahres 2016“ ausgezeichnete Currentzis ein breites Repertoire erarbeitet und nicht weniger als 14 Aufnahmen vorgelegt. Einen Schwerpunkt bildet dabei die historisch informierte Aufführungspraxis. Der Tourneeplan ist dicht gefüllt. Man fragt sich, ob es in Perm eigentlich noch einen Spielbetrieb gibt. Die Orchestermitglieder sind verhältnismäßig jung und bis in die Haarspitzen motiviert, wie ein YouTube-Video der dritten Mahler-Symphonie nahe legt. Ihre spielerischen Fähigkeiten sind, das lässt sich anhand der Einspielung der Sechsten jedenfalls sagen, exzellent. Da gibt es keine Einbußen, auch nicht in den kräftezehrenden Bläserpassagen.
Dass sich über die Interpretation dieser wohl dunkelsten Mahler-Symphonie streiten lässt, gehört wohl zum System Currentzis. Die ohnehin schon schroffen Tonklippen werden hier noch einmal geschärft, die Klanggebirge noch pathetischer aufgetürmt, als man es von anderen CDs kennt. Zarte Momente erklingen noch zarter, noch leiser. Der Grieche setzt auf Gegensätze und ungewohnte Tempowechsel – verliert dabei aber immer wieder den Zusammenhang. Manche Instrumente sind überpräsent, die Hörner geraten dafür in den Hintergrund.
Die berühmten Mahler’schen Momente der Ruhe und Entrückung zelebriert Currentzis mit impressionistischem Klangzauber – auch das ist eine Drehung zu viel an der Exzentrikschraube. „Normale“ Passagen gibt es freilich auch, und natürlich hinreißende, gerade im langsamen Satz, der sich zu höchster Ekstase aufschwingt.
Auf die Erfahrungen des SWR Symphonieorchesters mit einem „Jungen Wilden“ der Szene als Chefdirigent darf man jedenfalls gespannt sein. Die Kollegen vom MDR haben, so hört man, am Ende der Ära Kristjan Järvi im vergangenen Jahr erst einmal durchgeatmet.
Johannes Killyen