Mahler, Gustav

Symphony No 9

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Accentus music ACC 20299
erschienen in: das Orchester 12/2014 , Seite 81

Die Neunte von Gustav Mahler, entstanden vor allem im Ferienort (und seiner „Fluchtburg“) Toblach 1909, wurde erst posthum uraufgeführt (1912 in Wien durch Bruno Walter, ein Jahr nach Mahlers Tod). Es ist schon vor über hundert Jahren und auch seitdem darüber spekuliert worden, ob der Komponist sich selbst eine große orchestrale Abschiedsmusik geschrieben habe – weil er, nach der Diagnose der Herzschwäche und in der Krise jener Monate (Ausstieg als Direktor der Wiener Hofoper, Tod seiner Tochter Maria Anna, Eheprobleme mit Alma), seinen baldigen Tod befürchtet habe. In der Tat: Diese letzte Mahler-Sinfonie, auf dieser DVD mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter dem charismatischen Dirigenten Riccardo Chailly zu erleben, vereint Klänge des Schmerzes, der Aufgabe, einer persönlichen Endzeit. Aber Chailly entlockt den knapp 80 Minuten der vier Sätze auch andere Emotionen und Elemente der opulenten Partitur: das Licht, die Sehnsucht (nach der Ewigkeit?), die Schönheit der Trauer und zugleich des Lebens, den Puls der Zeit, die Aussicht auf die „Moderne“, die Hoffnung auf eine „gerechtere“, vielleicht sogar friedlichere Welt. Die alten Werte stürzten dann mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den Mahler ja nicht mehr erleben musste, ein…
So hört man/sieht man (bei exzellenter Kameraführung, wobei weniger das Gesicht Chaillys als Spiegel der Musik dient, sondern mehr die Intensität des Spiels der Orchestermitglieder) bei dieser Aufnahme von 2013 ein sinfonisches Ringen um Wirklichkeit und Vision, um Wahrheit und Klarheit, um Verwandlung und Wunsch. Chailly versinkt in keinem Moment des Stücks in sentimentaler Geste. Vielmehr spürt man den fast heiligen Ernst dieser „sprechenden“ und „dienenden“ Monumental-Musik, der der Dirigent aber die Ultra-Aura nimmt. Sie bleibt menschlich, sie fordert Maß und Maßstab, sie lotet seelisch tief und wehrt sich gerade in den Ecksätzen (Andante comodo, Adagio) gegen die ausschließliche Hingabe an „göttliche“ Dimensionen.
Die Satz-Anmerkungen des Komponisten – „etwas täppisch und sehr derb“ im Ländler (II.) oder „sehr trotzig“ in der Burleske (III.) beispielsweise – geben Chailly die Chance, sinfonische Kontraste und beinahe komische Einschübe einzubauen. So frischt der Dirigent das Geschehen auf und gewinnt Mahler tausend und noch mehr instrumentale Schattierungen ab. Ein ganz leises, verinnerlichtes Lächeln Chaillys verweist auf die nicht hörbaren oder sichtbaren Regungen und Spannungen: Musik aus dem Kopf, Musik aus dem Herzen, Musik aus der Seele. Das Rationale begegnet dem Suggestiven, Irrationalen und Intuitiven. Das macht die stupende Besonderheit dieser DVD bei Mahlers orchestralem „Schwanengesang“ aus.
Es mag virtuosere oder effektvollere Aufnahmen dieser Neunten geben. Aber in der klanglichen Unmittelbarkeit und auch in der traumhaften Endgültigkeit lassen Chailly und das fabelhaft, oft sogar äußerst behutsam musizierende Gewandhausorchester manchen Konkurrenten hinter sich.
Jörg Loskill

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