Gustav Mahler

Symphony No. 6 „Tragic“

NHK Symphony Orchestra Tokyo, Ltg. Paavo Järvi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: RCA Red Seal
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 69

In seiner sechsten Sinfonie, so kann man im Nachhinein feststellen, hat Gustav Mahler sein Leben „anticipando musiziert“: Es ist ein gigantisches, 90-minütiges Werk voll tragischer Wucht, das die Zuhörer der ersten Aufführungen ratlos zurückließ, komponiert in den Jahren 1903/04 ausgerechnet in einem der glücklichsten Zeitabschnitte seines Lebens. Mahler hatte als Hofoperndirektor in Wien seit 1897 eine neue Stufe auf der Karriereleiter erklommen, und gerade war die zweite Tochter geboren. Anticipando musiziert: Ein Jahr nach der Uraufführung starb die älteste Tochter Maria Anna, bei Mahler selbst wurde eine Herzkrankheit festgestellt – und auch die Tätigkeit an der Hofoper näherte sich ihrem Ende. All diese Niederlagen scheinen vorweggenommen in der sechsten Sinfonie mit ihren gigantischen Hammerschlägen im letzten Satz. Zwei sind es nach Mahlers letzter Anweisung – einen vorgesehenen dritten sparte er dann doch aus, möglicherweise, weil dieser den Helden der Sinfonie (mit dem sich Mahler identifizierte) endgültig niedergestreckt hätte. Paavo Järvi gehört zu den wohl umtriebigsten Dirigenten unserer Zeit: hr-Sinfonieorchester, Orchestre de Paris, Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Tonhalle-Orchester Zürich – er hat sie alle schon geleitet oder tut es noch. Beim Orchester des nationalen japanischen Rundfunksenders NHK ist er seit 2015/16 Chef. Auf der Liste seiner zahlreichen Aufnahmen stehen natürlich auch Mahler-Sinfonien, auch die sechste, die er schon mit dem damaligen RSO Frankfurt eingespielt hat. Die hier vorliegende CD wurde 2017 kurz vor einer Europatournee des NHK-Orchesters aufgenommen. Das Ensemble präsentiert sich dabei in ausgezeichneter Form, ausgewogen in allen Registern, mit herausragenden Solo-Bläsern, präzise im Zusammenspiel, gut intoniert. Zusammengefasst: ein wenig zu perfekt, gerade für Mahler. Man muss sich dabei nicht die exaltierte Interpretation Leonard Bernsteins vergleichend vor Augen und Ohren führen, um zu diesem Eindruck zu gelangen. Paavo Järvi ist ein perfekter Organisator des orchestralen Zusammenspiels, zieht aber in vielen großen emotionalen Momenten die Zügel zu fest an. Mahlers Dynamikanweisungen befolgt er zwar genauestens, doch Rubati kostet er zu wenig aus, lässt deutlich metrischer als viele andere Dirigenten spielen.
So gehen Mahlers Misterioso, seine Skurrilität und Wärme und letztlich auch seine Seele ein Stück weit verloren. Im ersten Satz gerät hier der stampfende Schicksalsrhythmus zu motorisch, die Streicher klingen manchmal metallisch scharf. Erst in der Reprise gewinnt die Musik an Wucht. Der zweite Satz, dieses grimmig grinsende Scherzo, wird mit zu wenig Risiko musiziert. Innig aber das Trio. Im langsamen Satz ist der große Gesang manchmal zu flächig, und auch den vierten hat man schon existenzieller gehört. Wer Mahler technisch perfekt spielt, hat schon viel gewonnen. Um einen bleibenden Eindruck in der unabsehbar großen Diskografie hinterlassen, reicht das jedoch nicht aus.
Johannes Killyen