Peter Tschaikowsky
Symphony No. 6 „Pathétique“
Berliner Philharmoniker, Ltg. Kirill Petrenko
Dies ist also die erste CD von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern, deren neuer Chefdirigent er seit August 2019 ist. Das Werk: die Sinfonie Nr. 6 h‑Moll mit dem Beinamen „Pathétique“ von Peter Tschaikowsky.
Die „Umverpackung“ der CD ist sehr aufwendig gestaltet mit ausführlichem, zweisprachigem Begleittext, illustriert mit Bildern vom Komponisten sowie von dessen Werk und den „Berlinern“. Zu lesen sind unter anderem Petrenkos Gedanken zur Interpretation der Sinfonie und nicht zuletzt die ansehnliche Besetzungsliste der Philharmoniker. Alles zusammen füllt ein 36-seitiges, auffällig gestaltetes Hardcover-Büchlein im Quartformat. Die CD ist eine sogenannte Hybrid-CD (SACD), welche höchste Standards erfüllt, aufgenommen am 22. und 23. Juni 2017. Und nicht genug: Zusammen mit dem Buch erhält man ein „7‑day ticket for the Digital Concert Hall“ mit Zugangscode.
Was will man da nach der beinahe atemlos machenden Aufzählung noch mehr? Weg nun also mit dem alten Plunder im Regal, den verstaubten Schallplatten mit Karajan und Co? Nein, beileibe nicht!
Trotz allbekannter vollendeter Spielkultur der Berliner bleibt Petrenkos Interpretation hinter den sehr hoch gestellten Erwartungen zurück. Zu unaufgeregt und aussageschlank kommt sie daher, wie eine Nobelkarosse mit zu schwachem Motor. Ich denke insbesondere an die bestechende Interpretation mit Jewgeni Mrawinski und den Leningrader Philharmonikern von 1957. Bei einem direkten Vergleich gebe ich der Schallplatte mit ihren dem Alter geschuldeten technischen Unzulänglichkeiten den Vorzug und lasse die vorliegende CD im Regal. Auch wem diese Referenzaufnahme mit Mrawinski zum Vergleich nicht vorliegt, wird mehr erwarten.
Während dort vorwärtsdrängend, seelenvoll mit viel Herzblut und intensiver Lebendigkeit musiziert wird, wirkt die aktuelle CD trotz feinstem und austariertem Klang statisch, ohne Biss: Der Kopfsatz besitzt Filmmusikcharakter, der 5/4‑Takt wirkt bemüht, der 3. Satz kommt militärisch gerade ohne dynamische Spannung daher. Petrenko kratzt auch im schwärzesten aller Finalsätze des 19. Jahrhunderts lediglich an der Oberfläche, ohne sich überhaupt der untergründigen Seelentiefe und unerklärlichen Rätselhaftigkeit von Tschaikowskys Musik zu nähern. Der Philosoph Ernst Bloch bemerkte einmal, ein großes Adagio sei „das wahre Finale der Symphonie, ein Kehraus“, der zur Musik hinführt („Prinzip Hoffnung“). Was hier bleibt, ist ein fragendes Achselzucken.
Bemerkenswerterweise warnte der Tonmeister dieser Aufnahme, er würde sie noch nicht als „gültig“ bezeichnen. Auch Petrenko ahnte es wohl, als er im Interview resümierte: „Natürlich ist auch dieser Mitschnitt nur eine Momentaufnahme, und ich weiß heute schon, würde ich das Stück wieder machen, würde ich es anders machen.“ Es sei die Frage erlaubt: warum dann diese suggestiv wirkende Aufmachung zu einer Interpretation, welche nicht gültig ist? Der erste Eindruck, der bekanntlich der Beste sein soll, ist hier zerstört.
Werner Bodendorff