Tchaikovsky, Pjotr Ilych

Symphony No. 6 in b minor op. 74 “Pathétique”

Wiener Symphoniker, Ltg. Philippe Jordan

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wiener Symphoniker WS 006
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 76

Geheimnisse machen die Musikgeschichte ja erst interessant. Wurde Mozart im Armengrab verscharrt? Versuchte Schostakowitsch durch falsche Metronomangaben die wahre Gestalt seiner Werke vor Stalins Kultur-Zensur zu verbergen? Hat sich Tschaikowsky mit Arsen selbst vergiftet, weil dies ein Ehrengericht wegen seiner Homosexualität von ihm verlangte? Einige dieser Vermutungen hat die Forschung als unlautere Legendenbildung mittlerweile widerlegt, anderes bestätigt. Doch ein wenig Mythos taugt immer noch, um ein breites Publikum in den Bann zu ziehen.
So schwärmt auch Daniel Wagner im Booklet zur neuen Einspielung der Pathétique von Tschaikowsky durch die Wiener Symphoniker unter Philippe Jordan vom letzten Programm des Komponisten, das so „schön wie ein Rätsel“ sei. Das „Sagenumwobene, das Geheimnisumwitterte“ soll neugierig machen auf eine Interpretation, die immerhin schon die 282. in der Geschichte des „Wiener Traditionsorchesters“ ist. Und was hat Jordan dazu zu sagen?
Eines wird sofort nach den ersten Takten klar: Rätselhaftes wird vor allem im Begleittext beschworen. Jordan lässt die Wiener nach dräuendem Adagio-Beginn zügig, aber ohne Hast und Rastlosigkeit die Themen entwickeln. Er setzt auf solide Seelen-Schau statt auf schwülstiges Requiem-Pathos, das so gerne in dieses Werk hineininterpretiert wird. Dieser Impetus wirkt modern und ist dennoch mit genügend Charme ausgestattet, um der persönlichen, ja intimen Durchdringung dieses „durch und durch subjektiven Programms“, in das Tschaikowsky seine „ganze Seele gelegt“ hatte, expressiven Ausdruck zu verleihen. Die oft gedehnten Ecksätze lässt Jordan geschmeidig dahinfließen – die Straffheit des Ansatzes eines Solti liegt ihm dennoch fern. Nirgends hört man Übermaß, stets ist Jordan auf Balance bedacht.
So kann man hinter der Schicksalssymphonie-Fassade von Zeit zu Zeit – insbesondere in den Mittelsätzen – erkennen, dass es Tschaikowsky neben dem Fatum-Gedanken insbesondere um eine selbstständige Lösung des Problems der Symphonie nach Beethoven gegangen ist. Hier offenbaren Jordan und die Wiener Symphoniker Transparenz. Manchmal allerdings erscheint sie als bloße Orchester-Demonstration und weniger als packende Innerlichkeit. Da gerät die nötige Synthese aus mitreißendem Außenglanz und symphonischer Dignität in Gefahr, verloren zu gehen. So verfällt Jordan im Schlusssatz nach feierlichem Blechbläser-Choral in eine starke Dramatisierung des langsam ersterbenden Finales. Nach vielen soliden Antworten, die dieser Einspielung durchaus einen respektablen Repertoirewert verleihen, gibt er dem Hörer so am Ende dann doch wieder ein Rätsel auf.
Christoph Ludewig