Mahler, Gustav
Symphony No. 6 in A minor
Gustav Mahler inspiriert Musiker wie Künstler. Neo Rauch zum Beispiel, als er erst jüngst eigens für das Cover der neu eingespielten sechsten Mahler-Sinfonie das grimmig-feurige und utopische Bild Stadt im Tal entwarf und malte. Aber auch die Aufführung selbst inspiriert, da sie sich zumindest was die Reihenfolge der Sätze anbelangt nicht unbedingt in den großen Malstrom der bisherigen Aufnahmen einreiht. Selbst im Vergleich mit den inzwischen schon verstorbenen großen Mahler-Dirigenten wie beispielsweise Leonard Bernstein, Herbert von Karajan oder Rafael Kubelik.
Blickt man nicht gleich ins dreisprachige Beiheft, weil das durchgehend englischsprachige Äußere und Innere der DVD-Hülle vielleicht irritiert oder verärgert, wundert man sich zunächst schon, weil nach dem großartigen Kopfsatz nicht das wuchtige Scherzo hineinbricht, sondern warme und wundersam sanfte Pastoralklänge des etwa viertelstündigen Andante moderato den Zuhörer anheimeln.
Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester waren konsequent
genug, Mahlers nicht mehr revidierten Wunsch, die beiden Mittelsätze zu vertauschen, mit aller Konsequenz durchzuführen. Die Sinfonie selbst, welche den Beinamen Tragische erhalten hat und die der Biograf Wolfgang Johannes Beckh den dunkelsten Ort im Land von Gustav Mahlers dunkler Symphonik nannte, liegt in drei Fassungen vor. Die erste wurde als Leseprobe für die Proben verwendet. Mahler vertauschte als zweite Fassung lediglich die Mittelsätze, wodurch das Andante zum zweiten Satz wurde. Im Juni 1906 begann Mahler eine Revision, in dem er u.a. den dritten Hammerschlag eliminierte. Obgleich die Konzeption und thematischen Gründe für die ursprüngliche Reihenfolge sprechen, hat Mahler seine Umstellung schriftlich nie widerrufen, jedoch gab er alle drei Fassungen zur Veröffentlichung frei. Alma Mahler hat 1919 auf Anfrage Willem Mengelbergs nach der richtigen Reihenfolge nicht zuletzt ihr Übriges dazugetan, Verwirrung zu stiften. Dieses und mehr ist als Bonusmaterial der beinahe 80-minütigen Einspielung beigegeben, das dem interessierten Zuhörer wirklich ans Herz gelegt werden soll, um ein Teil der schwierigen Problematik zu verstehen. Allerdings soll dies kein Grund sein, auf die älteren Aufnahmen mit dem Scherzo an zweiter Stelle hochnäsig herabzusehen; keiner braucht deswegen seine geliebte Eulenburg-Partitur wegzuwerfen, selbst die Gesamtausgabe von 1963 hatte sich für diese Reihenfolge entschieden.
Die Aufnahme anzuhören bzw. anzusehen, lohnt sich trotzdem allemal. Dabei verlaufen insbesondere die Tempi bis auf das sehr robuste, beinahe gehetzte und dämonisch wirkende Scherzo in empfindsamen Bahnen. Es ist wahrlich ein Genuss, sich die eineinhalb Stunden Zeit zu nehmen, um das gelungene und überaus überzeugende Konzert mit einem fantastisch spielenden Gewandhausorchester und einem in Mahler-Klängen badenden und hingebungsvoll dirigierenden Riccardo Chailly zu erleben: Es ist seine ganz persönliche Interpretation.
Werner Bodendorff