Mahler, Gustav
Symphony No. 6
Mahlers sechste Sinfonie ist nicht seine populärste, nicht die längste, sie kommt ohne Chor oder Sologesang aus und hat obendrein nur vier Sätze. Der Kopfsatz ist scheinbar das Muster einer klassischen Sonatenform. Und doch: Unter den richtigen Händen wird diese Sechste zur beispiellosen Vision der Apokalypse. Ein Todesgesang, der nicht nur Mahlers eigene Biografie meint, sondern eine Epoche zu Grabe trägt aber mit den Mitteln der Zukunft.
Bei Claudio Abbados neuer Aufnahme der sechsten Sinfonie fällt frappierend deren Geräuschhaftigkeit auf. Kein Mahler-Opus, in dem Schlagwerk und Rhythmus eine größere Rolle spielen; ein heftiger Marsch, der alles in seinen Bann schlägt und selbst dem Scherzo eine militärische Gangart aufzwingt; ein ekstatischer, unvergleichlicher Ausbruch zum Klang schwerer Kuhglocken im zweiten Satz; schließlich das vernichtende, trockene Niederfahren des Hammers im letzten Abschnitt; dazwischen immer wieder Inseln der Ruhe, auf denen es geheimnisvoll neblig zischt.
Doch hinter Abbados Aufnahme dieser Sinfonie steht noch eine andere Geschichte: die eines von Krankheit gezeichneten Dirigenten, der einst der erste in freier Orchesterwahl ernannte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker war und 2002 gesundheitlich angeschlagen zurücktrat. Nun ist er zurückgekehrt, hat mit den Berlinern die Sechste aufgeführt und gleich live eingespielt: eine triumphale Rückkehr.
Bereits 1979 hatte er sich dem Werk gewidmet, damals mit Soltis Chicago Symphony Orchestra in analytischer, spröde-präziser Nüchternheit. Süßlichkeit wird man auch jetzt vergeblich bei ihm suchen, aber Abbado entwickelt Sympathie für die Heftigkeiten des vierten, das Überbordende und zugleich den Liebreiz des zweiten Satzes (bei ihm ist es der langsame!).
Im ersten Abschnitt, der allein knapp 23 Minuten dauert, spart er dagegen mit Energie, achtet penibel auf die Vorwärtsbewegung, gönnt den lyrischen Themen wenig emotionalen Spielraum. Die Berliner plärren hier an der einen oder anderen Stelle. Umso beeindruckender, wie subtil und innig der Italiener das Andante moderato beginnt und zum unvergleichlichen Gipfel führt, auf dem wahrscheinlich nur Kühlschränken nicht schauderlich zumute wird. Unspektakulärer dann das Scherzo, aber stets mit dem Blick für die geheimen Mechanismen und feinen Rädchen dieser Musik: Hornseufzer, die wie das Wehklagen gefolterter Spielleute klingen; zarte, schüchterne Streicherfiguren, eine urweltlich knurrende Tuba.
Der vierte Satz ist für Claudio Abbado und die leider im Blech manchmal übersteuerten Berliner Philharmoniker der Höhepunkt der Sinfonie: schwankend zwischen Schmerzenslaut, hymnischem Grabgesang, Schattenstück, alpenländischem Mysterienspiel und Siegeshymnus, der die Apotheose des Untergangs jedoch stets nur kurz aufhellen kann.
Johannes Killyen