Anton Bruckner

Symphony No. 5

Wiener Philharmoniker, Ltg. Christian Thielemann

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony classical
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 66

Nach den Aufnahmen der Sinfonien 2, 3, 4 und 8 mit den Wiener Philharmonikern hat Christian Thielemann nun den Zyklus mit der 5. Sinfonie in B-Dur fortgesetzt. Wie bei Bruckner zu erwarten kräftig, mächtig, gewaltig – aber auch fein melodiös. Wer zu Beginn des Hörerlebnisses den Lautstärkeregler noch nicht optimal eingestellt hat, erschrickt nach den ersten, wie einen Hauch ausgeführten Takten der Introduktion, sobald das Orchester im Forte einsetzt. Diese Wechsel begleiten den Hörer durch die Sinfonie – meisterlich ausgeführt von den Philharmonikern. Das Auf- und Abschwellen von unglaublich lieblichen Melodien zu plötzlicher Expressivität zieht sich durch das gesamte Werk. Scharfe Risse, unerwartete Wendungen werden in langen Verarbeitungen überdeckt oder herausgestellt, verbinden sich immer wieder mit dem großen Ganzen, das kontrapunktisch von Anfang bis Ende durchdacht, aber nicht unbedingt sofort durchschaubar ist. Ein langer Atem ist notwendig.
Im Finale mit Doppelfuge bestechen die unvergleichliche Klangschönheit der Wiener Philharmoniker sowie die Brillanz und Kondition des Bläserensembles. Unglaublich, wie Bruckner die Themen verwebt. Nicht von ungefähr bezeichnete er selbst diese Sinfonie als „die phantastische“, als „mein kontrapunktisches Meisterstück“. Spätere Beinamen wie „die tragische“, „die Glaubenssymphonie“ oder gar „katholische“ erübrigen sich. Thielemann formuliert dazu treffend im Booklet: „Ob Sie Buddhist sind, Jude, evangelisch oder katholisch oder vielleicht sogar Atheist: Sie müssen eine Art von kontemplativer Seite haben. Bruckner taugt für alle.“ Dafür muss jedoch der geistige Horizont geöffnet, die Komplexität erkannt und erfühlt werden. Wer nur Bruckners Pathos oder Thielemanns oft bescheinigte Statik betrachtet, wird der Idee und Wirkung des Werks nicht gerecht. Es ist ein in sich stimmiger „Block“, dessen Meisterhaftigkeit sowie Wucht überwältigt und „erschlägt“ – und auch erschlagen darf. Dabei könnte Thielemann so statisch sein wie er wollte. Das hielten die Sinfonie wie auch die Wiener Philharmoniker aus. Die Erhabenheit spricht für sich. Weltweit geschätzt ist Christian Thielemann für die Dirigate eben jener Komponisten – Wagner, Strauss, Mahler, Beethoven, Brahms, Bruckner –, die in diesem Kosmos leben. Das Dreigestirn Bruckner, Wiener und Thielemann passt und erreicht ein wunderbares Klangerlebnis.
Anton Bruckner (1824–1896) hat seine 5. Sinfonie nie in orchestraler Besetzung hören können, da er zur Zeit der Uraufführung durch Franz Schalk in Graz 1894 schon zu krank war. Schalk hatte zahlreiche Streichungen und Umarbeitungen vorgenommen, sodass 1935 die Aufführung der Originalversion durch die Münchner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Siegmund von Hausegger großes Erstaunen hervorrief. Seither ist glücklicherweise diese Version in den Konzerthäusern und auf Tonträgern zu hören – Bruckners Kompromisslosigkeit zu Ehren.

Ingrid Ploss