Anton Bruckner

Symphony No. 4 WAB 104

Wiener Philharmoniker, Ltg. Christian Thielemann

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 05/2022 , Seite 68

Fünf Jahre sind vergangen. Bereits 2015 dirigierte Christian Thielemann Anton Bruckners „Romantische“, damals mit der Staatskapelle Dresden (das Orchester 11/2017). Im August 2020 spielte er sie erneut ein. Dann aber mit den Wiener Philharmonikern im Rahmen der Salzburger Festspiele.
Beiden Aufnahmen liegt die übliche und populär gewordene Version der Jahre 1878/80 zugrunde. Beide sind Konzertmitschnitte. Es reizt der Vergleich! Und so fallen auf dem ersten Blick die unterschiedlichen Längen auf. Die neue Aufnahme mit den Wienern erscheint zunächst durchweg mit knapp unter 70 Minuten kürzer als die beinahe dreieinhalb Minuten längere Dresdner Aufführung. Eingedenk der Tatsache aber, dass bei beiden CDs die Pausen mitgerechnet werden und in der Dresdener Aufnahme zusätzlich der Schlussapplaus mit über eineinhalb Minuten dazukommt, verkürzen sich die Zeiten und nähern sich an. Bei einer reinen Spieldauer von 68’50” in Salzburg und 71’10” in Dresden bleiben trotzdem aber immer noch zwei Minuten und etwa 20 Sekunden übrig.
Bemerkenswerterweise kommt hinzu, dass Thielemann bei der kürzeren Salzburger Aufführung Bruckners Schlussapotheose ab Takt 477 (Buchstabe V) mit drei Minuten und 21 Sekunden knapp zehn Sekunden länger dirigiert als die an sich längere Dresdner Aufführung. Wie kann dies sein bei ein und demselben Dirigenten? Eine Frage, die zu beantworten recht schwierig ist. Die Akustik könnte beispielsweise eine Rolle spielen, zumal die Aufnahme in der Semperoper mehr Nachhall zu haben scheint als die im Salzburger Fest-spielhaus und in Letzterem deswegen rascher gespielt werden kann.
Dass aber der grandiose Schluss hier nun länger ausfällt, ist dem Gestaltungswillen Thielemanns geschuldet. Er hat sich, folgt man dem Inhalt des zweisprachigen Booklets, selbstverständlich seine Gedanken über die „Romantische“ gemacht – auch für den Hörer interessant. Sie soll seine erste gewesen sein, die er bereits mit Anfang zwanzig dirigiert hatte, die ihm allerdings nicht recht gelungen sei. Außerdem erschiene sie ihm zu langsam dirigiert, „breiig und ereignislos“, so Thielemann. „Wir müssen bei Bruckner an die Architektur denken und an die große Linie.“ Jetzt aber sei er ein halbes Leben später mit den Wienern Philharmonikern dem „idealen Bruckner-Klang so nah wie nur möglich gekommen: volltönend, warm, farbenreich registriert, klar ohne Härten, konturiert ohne Kanten, der Klang einer orchestralen Orgel“. Weiter unten meint Thielemann, dass es im Romantischen bei Bruckner ein ganz großes Gefühlsspektrum gäbe, wo selbst die fahlen Farben nicht fehlen dürften.
Das erreicht er beispielsweise mit der klanglichen Zurücknahme der Holzbläser, die bei den Dresdnern mehr in den Vordergrund treten. Hier gibt Thielemann dafür dem glänzenden Blech und insbesondere den Hörnern mehr Raum, ebenso agieren die Streicher klanglich unmittelbarer. Beide Aufnahmen sind uneingeschränkt von höchster Qualität, der Geschmack allein darf hier entscheiden.
Werner Bodendorff