Dmitri Schostakowitsch
Symphony No 4
London Symphony Orchestra, Ltg. Gianandrea Noseda London Symphony Orchestra
Warum zog Dmitri Schostakowitsch seine vierte Symphonie c-Moll op. 43 kurz vor ihrer Uraufführung 1936 zurück? Diese Frage beschäftigt die musikalische Fachwelt schon seit Langem. Angeblich wegen Unzufriedenheit, hieß es offiziell, wohl um den wahren Grund zu verschleiern. Die Frage wird vermutlich nie beantwortet werden. Bekannt ist, dass Schostakowitsch nach der Aufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk massiv von der Partei und ihrem Presseorgan Prawda eingeschüchtert wurde, „erbauliche Musik für die Masse zu komponieren“, betont Andrew Huth im dreisprachigen CD-Booklet. Um die Parteigemüter zu beruhigen, komponierte er bekanntlich seine Fünfte.
Tatsächlich wäre dagegen die Vierte in ihrer ungezügelten Wildheit und Schroffheit auf echtes Unverständnis gestoßen. Erst Ende 1961 – acht Jahre nach Stalins Tod und drei Monate nach Schostakowitschs Zwölfter – wagte es der Komponist und ließ die Symphonie unter Kyrill Kondraschin erstmals aufführen. Die Referenzaufnahme mit ihm und dem Sinfonieorchester der Moskauer Staatlichen Philharmonie ist heute noch zu hören. Schostakowitsch schätzte sie sehr. Sie zeige eine Spur, die nach dessen eigener Einschätzung, „stärker und schärfer in meinem Schaffen hervorgetreten wäre. Ich hätte mehr Bravour gezeigt, mehr Sarkasmus verwendet… also meine Ideen offener ausdrücken können, anstatt sie tarnen zu müssen.“
Das Londoner Symphony Orchestra, das inzwischen schon einige Symphonien von Schostakowitsch eingespielt hat, arbeitete diese Schroffheit und das Grelle, das sich mit ruhigen Passagen oft sehr unmittelbar abwechselt, in schonungsloser Offenheit heraus. Die Passagen, aus denen die Musik Gustav Mahlers lugt, sind ebenso deutlich zu hören wie die übermahlerten Sequenzen. Es wird aber auch deutlich, dass die Symphonie zwar kein Programm hat, sondern das Programm selbst ist, wie eine Filmmusik ohne Film. Mit Blick auf die in dieser Zeit entstandenen, teilweise kleinformatigen, manchmal massiv lauten und heiteren Werke passt sie hinein, als Schostakowitsch in den 1930er Jahren viel Filmmusik komponierte. Gleichzeitig spiegelt die Vierte aber auch ein Stück Zeitstil wider, vergleicht man ähnliche Werke anderer Komponisten wie Nikolai Mjaskowskij oder Alexander Mosolow miteinander.
Anders als bei älteren Aufnahmen, bei denen Dirigenten versuchen, die zahlreichen Abschnitte organisch miteinander zu verbinden, polarisiert Gianandrea Noseda stärker. Die gewählten Tempi sind nur um Weniges langsamer, was gleichzeitig auch mehr Deutlichkeit bedeutet. Der Hörer erlebt hier unmittelbar ein rasches Wechselbad der Gefühle, der Komponist scheint also nicht getarnt zu haben. Möglich wird dies durch den übergroßen Orchesterapparat mit vier- bis sechsfach besetzten Holz- und den 20 Blechbläsern, der Schlagwerk-Armada und dem flottillenhaften Streicherwald. Trotzdem wirken aber sowohl die massiven als auch die subtil zarten und ebenso die augenzwinkernden Stellen keineswegs träge, sondern recht agil.
Werner Bodendorff