Xilin Wang
Symphony No. 3
China National Symphony Orchestra, Ltg. Emmanuel Siffert
Xilin Wang (oder Wang Xi-Lin, geb. 1936) ist ein Komponist, der sich mit ästhetischen Approximativen der westlichen Musikbetrachtung schwerlich fassen lässt. Als Wang 1964 die Kulturpolitik der Volksrepublik China kritisierte, wurde er in die Provinz Xangxi verbannt. Wang lebte mehrere Jahre als Zwangsarbeiter, er wurde inhaftiert und gefoltert. Nach seiner Entlassung komponierte Wang Auftragswerke für das ihn einerseits duldende, andererseits strafende System. Nach 1970 konnte er schrittweise in den Musikerberuf zurückkehren. Bald darauf wuchs seine Präsenz im Konzertleben. Er komponierte für das Pekinger Nationalensemble und das Symphonieorchester Bejing, hielt Vorträge an US-amerikanischen Musikhochschulen. Immer wieder kam es in dieser Zeit zu Reibungen und Kontroversen zwischen Wangs Haltung und dem offiziellen politischen Kurs der Volksrepublik China. Dennoch ist der äußerst produktive Komponist in seinem Heimatland etabliert. 2023 wurde die einstündige Dokumentation Man in Black des Regisseurs Wang Bing über Xilin Wang für das 76. Filmfestival in Cannes ausgewählt.
Auch Xilin Wangs dritte Sinfonie zeigt eine innige stilistische Verbundenheit zu den Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch. Und Wang hat hörbar eine Affinität zu Krzysztof Penderecki. Am Pult des China National Symphony Orchestra dirigiert Emmanuel Siffert die brillante Partitur mit technischer Virtuosität. Der Eindruck ist hart, glatt, kristallin und aus europäischer Perspektive ohne Hintergrund-Informationen schwerlich verständlich. Im umfangreichen Booklet erwähnt Matthias R. Entreß die Zuschreibung des einstündigen Werks als „,ernste Meditation‘ über die zehn Jahre währende unmenschliche ,Große Proletarische Kulturrevolution‘“. In diesem Kontext versteht man die 1989 entstandene Partitur auch als Anklage, deren Emotion sich hinter einer versteinernden Klangmauer verborgen hält. Diese Fassadenmusik nutzt Eklektizismus als Waffe. Entreß, der mit Wang für Deutschlandfunk Kultur 2020 ein Interview führte, interpretiert die Sinfonie aus dem Kontext eines musikalischen europäischen Kollektivgedächtnisses. Denn Xilin Wang zeigt eine starke Faszination an der europäischen, vor allem der russisch-sowjetischen Musik.
Aber wie rezipieren Xilin Wangs Landsleute diesen souveränen Eklektizismus, in dem für westeuropäische Ohren allenfalls wenige Spuren chinesischer Musikeinflüsse erkennbar aufscheinen? Wie ist die Semantik von Wangs politischer Opposition für sein Publikum in China erkennbar? Angesichts dieses Werks findet man sich als westlich geprägter Rezipient ständig auf dem Glatteis zwischen der Selbstgefälligkeit im Erkennen von Wangs europäischen Vorbildern und zugleich der Ratlosigkeit vor dem Phänomen einer chinesischen Kunstmusik im Spannungsfeld von Repräsentation, formaler Meisterschaft und latenten Botschaften.
Roland Dippel