Woyrsch, Felix
Symphony No. 2/Hamlet Overture
Steter Tropfen höhlt den Stein. Ohne die Regsamkeit des Musikbibliothekars Andreas Dreibrodt, der sein gedrucktes und ungedrucktes uvre dokumentarisch erfasste und Musikern zum Studium empfahl, wäre der Altonaer Komponist Felix Woyrsch (1860-1944) vergessen geblieben. Ungeachtet des Aufführungsschubs, den sein 150. Geburtstag 2010 auslöste, sind die Aufführungen und die CD-Edition der Hamlet-Ouvertüre und der zweiten Symphonie, die das Oldenburgische Staatsorchester unter Leitung von Thomas Dorsch 2011/12 wagte, ein Meilenstein auf dem Weg zur Rehabilitation des Komponisten, der im antiromantischen Klima der Nachkriegsjahrzehnte keine Überlebenschance hatte.
Die von Wagners Tristan ausgelöste Chromatisierung, das Ausrändern der Funktionsharmonik, die Vermischung der Tongeschlechter, die Spannung zwischen Diatonik und Chromatik prägen den Klangstil seiner Reifezeit. Futuristische Experimente, Preisgabe des Tonartensystems, Zwölfton-Praktiken blieben ihm wesensfremd. Als Komponist vornehmlich Autodidakt, begab er sich bei den alten Meistern in die Lehre. Wie die Ouvertüre zu Shakespeares Hamlet zeigt, hat sich Woyrsch bei ihnen vielerlei abgeguckt, etwa die Techniken der Motivabspaltung (Beethoven) und “entwickelnden Variation” (Brahms) oder den registerartigen Orchestersatz (Bruckner). Auf Liszts Sinfonische Dichtung Hamlet verweisen Seufzermotive, Paukenwirbel, stockende Rhythmen, der Trauermarsch des Epilogs.
Die starke, von Thomas Dorsch tiefenscharf ausmodellierte Zeigekraft der Musik legt es nahe, bildhaften Vorstellungen nachzugeben. Unzweifelhaft schildert die Introduktion den spukhaften Aufritt des väterlichen Geistes und die engelhafte Erscheinung Ophelias, bevor Hamlet seinen Racheplan fasst. Wobei seine (diatonische) Entschiedenheit immer wieder in (chromatische) Bedenklichkeiten umschlägt. Der anschwellende Bewegungssturm, die synkopischen Akzente und die zugespitzte Chromatik deuten auf das tragische Duell mit Laertes, das auch Hamlet hörbar zu Fall bringt. Der Rest ist Schweigen bis sich der Trauerzug langsam und schwer in Bewegung setzt.
Der ebenso energetische wie strukturbewusste Aufriss, den Thomas Dorsch der gut dreiviertelstündigen zweiten Symphonie (uraufgeführt 1914) widmet, fördert entschieden den formalen Durchblick des Hörers. Dem Woyrsch sogleich das tonale Geländer entzieht, indem er die (auf dem Titelblatt schamhaft eingeklammerte) Tonart C-Dur auf kürzestem Wege ad absurdum führt. Verblüffend die Ähnlichkeit des Themenkopfes mit dem Anfang des Studentenliedes Gaudeamus igitur, das Brahms in der Akademischen Festouvertüre zitiert. Passend dazu die festliche Trompetenfanfare als Überleitungsgedanke. Andächtig erforschen die Oldenburger die wundersamen Aus- und Umdeutungen des getragenen Gesangsthemas im zweiten Satz. Anstelle des Scherzos steht ein fünfteiliger Variationensatz über ein ländlerartiges Thema. Im Finale fackeln die Oldenburger ein veritables Feuerwerk ab, das die Einfälle des Komponisten nur so prasseln und knistern lässt. Die dissonanten Sforzati kurz vor Schluss mindern die Banalität der finalen Akkordschläge.
Lutz Lesle