Anton Bruckner

Symphony No. 2

Wiener Philharmoniker, Ltg. Chris­tian Thielemann

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 66

Mit dieser Aufnahme fängt man an, Bruckner neu zu lieben. Von den neun „giltigen“ Symphonien Anton Bruckners steht die zweite in c-Moll WAB 102 immer noch im Schatten der übrigen. Vielleicht, weil Zeitgenossen und Nachgeborene sie zum Teil verächtlich kritisiert, stiefmütterlich behandelt oder sie als „Pausensymphonie“ dis­kreditiert hatten.
Nach Anhören vorliegender Einspielung mag die Überzeugung wachsen, das könnte sich nun ändern. Sie ist die erste, die mit dem typischen Bruckner-Tremolo beginnt. Bereits im April 2019 hatte Christian Thielemann sie im Wiener Musikvereinssaal mit den Wiener Philharmonikern eingespielt und jüngst der Öffentlichkeit präsentiert. Mit jenem berühmten Orchester also, das Bruckners zweite Symphonie in beiden Fassungen – 1873 noch unter Bruckner selbst und 1894 unter Hans Richter – aus der Taufe gehoben hatte. Die Fassungen unterscheiden sich unter anderem durch den Tausch des langsamen Satzes, der ursprünglich an dritter Stelle stand.
Und wirklich: Die Aufnahme unterscheidet sich von manch älteren Einspielungen durch eine bestechende Transparenz, wohltuende Klarheit und strömende Ausdruckswärme. Wie die Streicher fein ziseliert mit vorwärtsdrängendem Gestus die Sechzehntel weben, die Celli und Bratschen mit hoher Prägnanz und butterweich die beinahe zaghaft ins Geschehen eingreifenden Themen spielen, ist schon sehr bemerkenswert. Ebenso die Holz- und Blechbläser, die zart, mit wohltuenden Klängen, die herrlichen Passagen der Symphonie jeweils farbig herausstreichen. Damit interpretiert Christian Thielemann sie mit einer gewinnenden und offenen Ehrlichkeit.
Vor den zahlreichen Pausen, in denen Bruckner scheinbar Zeit braucht, mit neuer Kraft die nächsten Gedanken zu fassen und zu entwickeln, lässt Thielemann den Abschluss natürlich und gedankenvoll ruhig ausschwingen. Zeit also, um wirklich Atem zu schöpfen – so, wie Bruckner es selbst zum späteren Dirigenten Arthur Nikisch gesagt haben soll – und um jeweils das neue Thema mit weiteren, sinnlich dargebrachten Klängen lebendig werden zu lassen. Thielemann verhetzt hier weder die Spannungsbögen noch übertreibt er es mit den Accelerandi, sondern er lässt die Symphonie liebevoll dahinströmen.
Im Gegensatz dazu peitschte beispielsweise der große Bruckner-Dirigent Eugen Jochum sie in seiner Aufnahme von 1967 in nur etwa 51 Minuten durch, während sich Thielemann beinahe eine ganze Stunde Zeit lässt und die lichtdurchflutete Musik voll auskostet. Und dieses sinnlich-ergreifende Dahingleiten durch den Bruckner-Schmelz geschieht auch im langsamen Satz, der mit würdevollen Kathedralklängen bereits auf spätere Symphonien hindeutet. Daraufhin wirkt das Scherzo umso intensiver und ungestümer mit seinen widerstrebenden Kontrasten, bevor es eilig in den Finalsatz mündet. Das Orchester gibt dessen nervöse Erregung und innere Unruhe, die ihn charakterisiert, mit großem Atem plastisch wieder, bevor das typisch Bruckner’sche Triumph-Hurra das von Patina befreite Werk beendet. <
Werner Bodendorff