Johannes Brahms
Symphony No. 1 & Tragic Overture
Gewandhausorchester, Ltg. Herbert Blomstedt
Die Beziehung zwischen dem Gewandhausorchester und seinem Ehrendirigenten Herbert Blom-stedt gleicht der von in bestem Einvernehmen Geschiedenen, die ganz große Achtsamkeit füreinander zeigen, echte Zärtlichkeiten austauschen und sich mit Respekt begegnen. Das geschieht im Gewandhaus bei Auftritten Blomstedts regelmäßig und zudem mit Kenntnis wichtiger Voraussetzungen für Glück und Gelingen: Lust auf anderes und das Vermeiden von Routinen. Sogar aus der Perspektive von Paartherapeuten und Unternehmensberatern kann man also der Dauerliaison des Haupt-Exponenten der Musikstadt Leipzig mit dem Gewandhauskapellmeister der Jahre 1998 bis 2005 ein stabiles Stimmungsbarometer vorhersagen.
Es erstaunt, dass der 93-jährige Blomstedt mit dem Gewandhausorchester bereits Gesamteinspielungen der Symphonien von Beethoven und Bruckner vorlegte, aber auf CD verhältnismäßig spät den ganzen sinfonischen Brahms in Angriff nimmt. Dabei war der Komponist als
Freund von Clara und Robert Schumann indirekt und später durch die Uraufführungen seines Deutschen Requiems und seines Violinkonzerts im Gewandhaus der Musikstadt viel enger verbunden als Gustav Mahler: Dieser verzog schon nach kurzer Zeit wieder. Vom 13. bis 24. Mai soll er im Gewandhaus mit einem zweiten Festival geehrt werden.
Und somit gleicht der hiermit eröffnete Brahms-Zyklus des Labels Pentatone einer Aufforderung zur Polygamie. Denn er entsteht parallel zum Bruckner-plus-Wagner-Zyklus des Gewandhausorchesters für die Deutsche Grammophon unter dem amtierenden Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons. Unter Leipzigs Opernintendant Ulf Schirmer folgt mit dessen Prachtprojekt „Wagner22“ die nächste Rekordleistung.
In diesem friedlichen Spannungsgefüge philharmonischer Hochkultur nun also die Frage: „Lieben Sie Brahms?“ Die Antwort kann nur lauten: Ja! Diese Einspielung ist über jeden Verdacht einer auffrisierten Versäumnisbehebung erhaben. Blomstedts Brahms-Vision steht in großer Entfernung zu Beethoven oder Mendelssohn und in bemerkenswert ungewöhnlicher Nähe zu Wagner.
Die hohen und tiefen Streicherstimmen klingen im meisterhaften Chor. Blomstedt ebnet die bei Brahms erwartete Transparenz ein, ohne dafür auf sanft fließende Leichtigkeit zu verzichten. Man hört üppigen Samt ohne Schwere, Wärme ohne sämige Schläfrigkeit und Hingabefähigkeit ohne Selbstaufgabe. Gerade weil orchestrale Farbspiele wie unter gedimmten Licht abgetönt sind, gerät Blomstedts Brahms zur echten Sensation durch genussvolle Ganzheitlichkeit. Vergleiche verbieten sich. Aber Blomstedt entdeckt in dieser wunderbaren Eröffnung des Brahms-Zyklus eine fast Furtwängler’sche Fülle, die in den akustischen Trends zum von Höhen dominierten Klang fast in Vergessenheit geriet. Zur künstlerischen Großtat wird das auch, weil die Gewandhausorchestermusiker denkend atmen und Blomstedt genau weiß, unter welchen Voraussetzungen dieses Orchester am besten atmen kann. Was für eine schöne Synthese!
Roland Dippel