Johannes Brahms

Symphony No. 1 & Tragic Overture

Gewandhausorchester, Ltg. Herbert Blomstedt

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Pentatone
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 72

Die Beziehung zwischen dem Gewandhausorchester und seinem Ehrendirigenten Herbert Blom-stedt gleicht der von in bestem Einver­nehmen Geschiedenen, die ganz große Achtsamkeit füreinander zei­gen, echte Zärtlichkeiten austau­schen und sich mit Respekt begeg­nen. Das geschieht im Gewandhaus bei Auftritten Blomstedts regelmä­ßig und zudem mit Kenntnis wich­tiger Voraussetzungen für Glück und Gelingen: Lust auf anderes und das Vermeiden von Routinen. So­gar aus der Perspektive von Paar­therapeuten und Unternehmensbe­ratern kann man also der Dauerliaison des Haupt-Exponenten der Musikstadt Leipzig mit dem Ge­wandhauskapellmeister der Jahre 1998 bis 2005 ein stabiles Stim­mungsbarometer vorhersagen.
Es erstaunt, dass der 93-jährige Blomstedt mit dem Gewandhausorchester bereits Gesamteinspielun­gen der Symphonien von Beethoven und Bruckner vorlegte, aber auf CD verhältnismäßig spät den ganzen sinfonischen Brahms in Angriff nimmt. Dabei war der Komponist als
Freund von Clara und Robert Schumann indirekt und später durch die Uraufführungen seines Deutschen Requiems und seines Violinkonzerts im Gewandhaus der Musikstadt viel enger verbunden als Gustav Mahler: Dieser verzog schon nach kurzer Zeit wieder. Vom 13. bis 24. Mai soll er im Gewandhaus mit einem zweiten Festival geehrt werden.
Und somit gleicht der hiermit eröffnete Brahms-Zyklus des Labels Pentatone einer Aufforderung zur Polygamie. Denn er entsteht paral­lel zum Bruckner-plus-Wagner-Zyklus des Gewandhausorchesters für die Deutsche Grammophon unter dem amtierenden Gewandhauska­pellmeister Andris Nelsons. Unter Leipzigs Opernintendant Ulf Schir­mer folgt mit dessen Prachtprojekt „Wagner22“ die nächste Rekord­leistung.
In diesem friedlichen Span­nungsgefüge philharmonischer Hochkultur nun also die Frage: „Lieben Sie Brahms?“ Die Antwort kann nur lauten: Ja! Diese Einspielung ist über jeden Verdacht einer auffrisierten Versäumnisbehebung erhaben. Blomstedts Brahms-Vision steht in großer Entfernung zu Beethoven oder Mendelssohn und in bemer­kenswert ungewöhnlicher Nähe zu Wagner.
Die hohen und tiefen Streicher­stimmen klingen im meisterhaften Chor. Blomstedt ebnet die bei Brahms erwartete Transparenz ein, ohne dafür auf sanft fließende Leichtigkeit zu verzichten. Man hört üp­pigen Samt ohne Schwere, Wärme ohne sämige Schläfrigkeit und Hin­gabefähigkeit ohne Selbstaufgabe. Gerade weil orchestrale Farbspiele wie unter gedimmten Licht abge­tönt sind, gerät Blomstedts Brahms zur echten Sensation durch genuss­volle Ganzheitlichkeit. Vergleiche verbieten sich. Aber Blomstedt ent­deckt in dieser wunderbaren Eröff­nung des Brahms-Zyklus eine fast Furtwängler’sche Fülle, die in den akustischen Trends zum von Höhen dominierten Klang fast in Vergessenheit geriet. Zur künstlerischen Großtat wird das auch, weil die Gewand­hausorchestermusiker denkend at­men und Blomstedt genau weiß, unter welchen Voraussetzungen dieses Orchester am besten atmen kann. Was für eine schöne Synthese!
Roland Dippel