Tilman Sillescu

Symphony No.1 Nachtlichter

Staatskapelle Weimar, Ltg. Christian F. Frank

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 65

Der Sohn des Rezensenten öffnet beim Hören der vorliegenden CD die Tür, grinst und fragt: „Seit wann bist du denn Gamer?“ So Unrecht hat er nicht, denn die Nachtlichter von Tilman Sillescu, seine erste Sinfonie (2020), nutzen durchgehend den Duktus der Musiksprache der neueren Videospiele: großflächige Klanglandschaften voller Modulationen und Soli wechseln einander ab – erstklassig gespielt von der Staatskapelle Weimar unter Christian F. Frank (schon jetzt ein überschäumendes Lob vor allem an die Bläser des Orchesters!). Die Spannung weicht immer nur kurz der Entspannung, um dann erneut mit allen Mitteln der spätromantischen Filmmusik zurückzukehren. Bilder im Kopf, ganze Szenen können sich einstellen, wenn man sich in den opulenten Sound fallen lässt, wenn man bereit ist, nicht analytisch, sondern ausschließlich tiefenentspannt zu hören.
Das Andante moderato, der erste Satz der viersätzigen Sinfonie, dauert gute zwölf Minuten. Brillante Soli folgen aufeinander, melodische Gedanken ändern sich stetig – es mutet ein wenig an, als würden imaginäre Filmbilder die Musik stetig und plötzlich beeinflussen. Die Bläser erstrahlen in voller Klangschönheit, denn Komponist Sillescu weiß, was jedem Instrument besonders gut steht. Gewollte Brüche steigern die Spannung.
Der zweite Satz (Presto) kommt im flotten Galopp daher, das Schlag­zeug tritt deutlich hervor und ein paar Effekte wirken als fast humoristische Farbtupfer. Gefühlt hat dieser Satz ein scheinbar permanentes Crescendo – bis in die Mitte. Ein jäh angedeutetes Ende, eine kurze Überleitung folgt und das kleine Oboenthema beginnt die zweite Hälfte des Satzes, zieht sich durch das Holz und bald schon galoppiert das rasante Tutti weiter, dem wohlverdienten Satzende entgegen.
Das Adagio non troppo beginnt mit einem zarten Horn über flirrenden Streichern, ein paar Bläsereinwürfe unterbrechen und wieder erklingt das singende Horn, bis das kleine Hornmotiv endlich auch in den Streichern angekommen ist. Bald schon jagen Bläserdramatik und einige Pizzicatopassagen einander in eine chromatische Steigerung. Diese Dramatik bleibt einige Zeit dominant, dann klingt es sachte aus bis zum Satzende.
Gewaltig neigt sich die Sinfonie mit dem Allegro con moto dem Ende entgegen. Die Streicher eröffnen, nach einer angedeuteten Blechfanfare, mit rasanten Läufen. Unterhaltsam, sportiv und forsch nach vorn gehend zieht Sillescu zwölf Minuten lang alle romantischen Klangregister, unterhält virtuos und geizt nicht mit Effekten. Ruhige Passagen, mit kleinen glitzernden Soli gespickt, sorgen für etwas Ruhe vor dem letzten musikalischen Sturm. Eine grandiose musikalische Sahnetorte sozusagen, von Meisterhand gefertigt, aber für Freunde des Vollkornbrots nicht immer nachzuvollziehen.
Neue Musik ist das schöne Stück sicher nicht. Sillescu selbst schreibt dazu: „Mein Ziel war es, für Nachtlichter eine einfache und zugängliche Klangsprache zu finden.“ Das ist ihm gelungen und die Staatskapelle Weimar scheint der optimale und virtuose Klangkörper für diese großen Sounds zu sein.
Heike Eickhoff