Gustav Mahler
Symphonischer Satz für Orchester „Blumine“
hg. von Christian Rudolf Riedel
Es gibt bei Mahlers Sinfonien, die heute ja zum Kernrepertorie aller großen Orchester gehören, ein paar nicht eindeutig zu entscheidende, aber für das Verständnis der Werke sehr relevante Probleme mit den Lesarten. Was ist nun die richtige Reihenfolge der Binnensätze in der sechsten Sinfonie, und wie steht es um den dritten Hammerschlag im Finale dieser Sinfonie? Warum hat Mahler ihn gestrichen, gehört er nicht doch zum Stück?
Eine andere offene Frage ist bei der ersten Sinfonie, die erst lange nach der Entstehung die heute übliche Gestalt erhielt, die Verwendung des von Mahler später eliminierten ursprünglichen zweiten Satzes mit dem poetischen, an Jean Paul angelehnten Titel „Blumine“. Das serenadenhafte Stück mit dem prägenden Trompeten-Solo taucht immer mal wieder im Konzertleben auf, weil es manche Dirigenten doch gerne als Teil der ersten Sinfonie musizieren.
Bei seinen Stuttgarter Mahler-Konzerten mit dem damaligen Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR hatte Roger Norrington seinerzeit sogar in einer Einführungsrede seine wohl erst im Lauf der Arbeit an der Ersten gewachsene Entscheidung, „Blumine“ zu spielen, begründet. In Hamburg führte später Thomas Hengelbrock mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester die Erste mit „Blumine“ ganz in der bis dato unbekannten frühen Hamburger Fassung auf.
Im Zuge einer neuen textkritischen Mahler-Sinfonien-Edition mit neuem Notensatz hat der Verlag Breitkopf & Härtel im 300. Jahr seines Bestehens nun als ersten Band die erste Sinfonie vorgelegt, mal als Leinenband mit „Blumine“, mal broschiert ohne – und als eigenes Heft auch „Blumine“ extra. Es ist sehr erfreulich, dass damit nun auch dank des vorzüglich gelungenen Satzes eine sehr gut lesbare Partitur des „Blumine“-Satzes vorliegt und für die Praxis leicht greifbar ist.
Ein weiterer wesentlicher Gewinn der neuen Edition ist es, dass hier auch die Partiturabschrift für die Hamburger Aufführung 1893 in den Blick genommen, ja als zuletzt überlieferte Fassung sogar zur Hauptquelle wurde. Sie wurde von Mahler revidiert und für die Aufführungen in Hamburg und später in Weimar benutzt. Und bekanntlich hat Mahler nach Aufführungen ja meist nach den praktischen Erfahrungen den Notentext verändert.
Der vorliegende Notenband bringt neben einem grundlegenden Vorwort des Herausgebers, das die Idee dieser Edition vorstellt, auch zwei kompakte, aber dennoch höchst fundierte und substanzielle Beiträge des 89-jährigen Hamburger Musikwissenschaftlers und Mahler-Forschers Constantin Floros zu Mahlers Sinfonien im Allgemeinen und ersten Sinfonie im Besonderen. Floros ist ja der Vertreter einer Mahler-Deutung, die dem programmatischen Sinngehalt dieser Musik nachspürt – und er vertritt damit die Gegenposition zu Theodor W. Adornos Mahler-Sicht. Floros zitiert in seinem Text Adorno ganz ohne Polemik, aber das ist genug.
Fürs Erste ist dieses verdienstvolle Editionsprojekt eine Sache für die Praxis, es wäre schön, wenn es später auch Studienpartituren gäbe.
Karl Georg Berg