Tālivaldis Ķeniņš

Symphonies Nos. 4 & 6/ Canzona Sonata

Santa Vižine (Viola), Latvian National Symphony Orchestra, Ltg. Guntis Kuzma

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ondine ODE 1354-2
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 80

Als Lette im Exil war Tālivaldis Ķeniņš (1919-2008) lange Zeit weitgehend vergessen, obwohl er zu seinen Lebzeiten einer der meistaufgeführten Komponisten Kanadas war. Sogar eine Straße in einem Vorort der Hauptstadt Ottawa wurde damals nach ihm benannt. Seine Schule war das Lycée Champollion in Grenoble, er studierte zuerst in seiner Heimatstadt Riga und später in Paris, sein Lehrer in Analyse war Olivier Messiaen.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs flohen fast 200 000 Letten vor der zweiten sowjetischen Okkupation in den Westen, darunter ein großer Teil der kulturellen Elite. Erst in jüngeren Jahren wird die Musik von Ķeniņš allmählich wiederentdeckt. Sie zeigt eine faszinierende Mischung aus lettischer Nationalromantik und französischem Modernismus, aus spiritueller Tiefe und klarer Konstruktion. Diese neue CD enthält drei seiner besten Werke.
Es beginnt mit der Symphonie Nr. 4 in zwei Sätzen mit je vier Tempoabschnitten. 1972 wurde sie komponiert und ein Jahr später uraufgeführt, beim Lettischen Liederfest im Exil im Kölner Gürzenich. Sie ist kammermusikalisch besetzt, außerdem ohne Kontrabass, dafür mit einem konzertanten Percussion-Part. Offenbar ist sie Ķeniņš’ meistaufgeführtes Werk.
Für sein bestes Werk hielt er allerdings die Symphonie Nr. 6 Sinfonia ad fugam von 1978. Sie entstand aus dem Unterricht bei Messiaen, wo der junge Komponist die fünfstimmige Fuge cis-Moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach, deren Hauptthema dem B-A-C-H-Motiv ähnelt, zuerst analysierte und dann spielerisch um noch mehr Kontrapunkt erweiterte. Der Titel ist auch eine Anspielung auf die gleichnamige Messvertonung von Giovanni Pierluigi da Palestrina. Diese Symphonie hat nur einen Satz, dessen vier Tempoabschnitte aber den traditionellen vier Sätzen der Gattung entsprechen. Schon der Beginn ist erstklassig, da scheint eine versunkene Kathedrale aufzutauchen.
Zum Abschluss gibt es noch die einsätzige und elfminütige Canzona Sonata für Viola und Streichorchester, komponiert 1986 für die in Australien aufgewachsene lettische Bratschistin Andra Dārziņa, damals Mitglied der Berliner Philharmoniker. Dieses Werk wirkt düster und zugleich hoffnungsfroh, meisterhaft in der wechselnden Verschränkung von Solo und Tutti.
Die CD muss man alleine schon deshalb gehört haben, weil das Lettische Nationale Symphonieorchester aus Riga, die lettische Solistin Santa Vižine und der gleichfalls noch junge lettische Dirigent Guntis Kuzma das alles mit leuchtender Durchsichtigkeit und überhaupt souveräner Weltklasse spielen. Sie intonieren die Dissonanzen korrekt und dadurch überzeugend, die wenigen warmen Melodien durchaus geschmackvoll.
Ingo Hoddick