Avet Rubeni Terterian

Symphonies Nos 3 and 4

Bournemouth Symphony Orchestra, Ltg. Kirill Karabits

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Chandos
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 73

Diese Musik überrascht immer wieder. Alles ist anders, manches ist fremd und vieles völlig neu: Einzeltöne haben als Orte spiritueller Ruhe und formbildender Energie eine besondere Bedeutung. Die Sinfonie kommt ohne Entwicklungsprinzip und Narration aus, und die reine Harmonie der Klänge ist dennoch „welthaltig“. Und in Bezug auf einen populären, Folklore brillant nutzenden Landsmann Aram Chatschaturjan ist Awet Terterjan (1929-1994) der asketische Antipode, der sich radikal auf die Ursprünge der armenischen Volksmusik besinnt und über ein großes Arsenal an Klangsymbolen der Kulturen Asiens und des Orients verfügt. Wie die Georgier Gija Kantscheli und Aleksi Matschawariani oder wie Qara Qarayev aus Aserbaidschan war auch Terterjan mit seinen acht Sinfonien, zwei Opern, dem Shakespeare- Ballett und weiteren Werken an der Erschaffung eines Musik- Kosmos beteiligt, der in den erhabenen Landschaften und den uralten Ritualen und Traditionen des Kaukasus wurzelt und dem ein einzigartiger Platz innerhalb der multinationalen Musikkultur der UdSSR zukam, was auch auf ihn selbst, den Einzelgänger, zutraf. Terterjans Musik ist durch magische Klangbilder und mythische Botschaften geprägt; ihre unendlichen Räume, die atemlose Stille und atemberaubende Eruptionen wecken Gedanken über Leben und Tod, über die Welt und das All. Alte Volksinstrumente verorten diese Spiritualität, der das „Dam“ – ein langer Einzelton –
Ewigkeit zumisst… Geboren in Baku, hat Awet Terterjan hier und in Erewan Musikschulen besucht und bei Eduard Mirsojan Komposition studiert. Als Hochschullehrer und als Mitglied im armenischen wie im sowjetischen Komponistenverband und im Kulturministerium Armeniens engagierte er sich zeitlebens für das Kunstschaffen in seiner Heimat.Die 3. Sinfonie (1975) besteht noch aus drei Sätzen. Dröhnende Pauken und Trommeln, lärmende
Zurnas und diabolisches Gelächter leiten zum stillen Mittelsatz über. Hier formen die Klagelaute zweier Duduks, Posaunen-Glissandi, lange Pausen und vibrierende Schienen eine jener Traueroden, in denen der Komponist Schicksalsschläge, Naturgewalten, Kriegsgräuel und Völkermord reflektiert, Töne für die Seele und die Ewigkeit. Aber die zügellose Gewalt des Finales zeigt eine wahnwitzige Welt am Abgrund der Zerstörung und des Nichts. Zu Beginn der Vierten (1979) symbolisiert ein Cembalo-Choral (Händel) „die ewige Idee der Reinheit und Wahrheit“. Aus der Ferne und fast andauernd klingend, wird er von Glocken, Stimmen aus dem Off, von Schlagzeug und Naturtönen überlagert – ein „statisches Drama“, das in meditativer Entspannung wie ein tranceartiger Traum endet. Die hervorragende Neuaufnahme dieser zu Lebzeiten Terterjans oft gespielten Werke verdankt sich auch den Interpreten, die ungemein präzise und souverän den Geist der Musik zur Geltung bringen. Bei seinen Entdeckungsreisen durch die Welt der sowjetischen Sinfonik hat Kirill Karabits mit dem Bournemouth Symphony Orchestra nun einen weiteren Meilenstein gesetzt. Als Zugabe erklingt Volksmusik.
Eberhard Kneipel