Mendelssohn Bartholdy, Felix

Symphonies No. 1 & No. 5 “Reformation”

Rubrik: CDs
Verlag/Label: hänssler 93 132
erschienen in: das Orchester 11/2005 , Seite 92

Es hätte eine Gesamteinspielung werden können, doch Hänssler Classic hat mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung Roger Norringtons nur vier der fünf Sinfonien Mendelssohns veröffentlicht. Auf die Einbeziehung der zweiten Sinfonie B-Dur op. 52 (Lobgesang) hat man wohl wegen des Chors und der Vokalsolisten verzichten müssen. Entstanden ist diese Aufnahme im vergangenen Jahr als Konzertmitschnitt beim Europäischen Musikfest in Stuttgart, und im Falle der B-Dur-Sinfonie hatte man es damals bei deren ersten drei reinen Instrumentalsätzen bewenden lassen.
Norrington, seit 1998 Chefdirigent des Stuttgarter Orchesters, hat mit diesem Ensemble von Anbeginn seine profunde Erfahrung auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis auf einen Apparat mit modernem Instrumentarium übertragen wollen. Die hohe Anerkennung, die er und das Orchester mittlerweile weltweit genießen, hat gar ein unverwechselbares Markenprodukt generieren können, den so genannten „Stuttgart Sound“. Und auch diese Mendelssohn-Einspielung begründet ihre Unverzichtbarkeit auf der historisch informierten, feinnervigen Artikulationsweise und der vibratoarmen klanglichen Reinheit, mit der Norrington und das Orchester hier agieren.
Gekoppelt sind auf den beiden CDs die weniger bekannten Sinfonien Nr. 1 c-Moll op. 11 und Nr. 5 d-Moll op. 104 (Reformations-Symphonie) sowie die vertrauten Sinfonien Nr. 3 a-Moll op. 56 (Schottische) und Nr. 4 A-Dur op. 90 (Italienische). Der Schaffensprozess an diesen Werken erstreckte sich über einen Zeitraum von 18 Jahren. Am Anfang steht die 1824 entstandene, die zwölf jugendlichen Streichersinfonien hinter sich lassende, aber durchaus noch deren Geist atmende Sinfonie c-Moll. Mit furioser Attacke wirft sich das RSO Stuttgart in das eröffnende Allegro molto. Norrington weiß aber solche vorwärts stürmende Energie ins Gleichgewicht mit einer sanglich ausformulierten Melodiosität des Seitenthemas zu bringen. Leuchtende variative Figurationen vermag er im empfindungstief beseelten Andante herauszuarbeiten, gewichtig akzentuiert, aber nie schwerfällig bekommt man das Menuetto zu hören. Der Finalsatz erscheint bei aller dramatischen Kraft schlank und licht.
In den beiden reiferen Sinfonien Nr. 3 und Nr. 4, der Schottischen und der Italienischen, überzeugt Norrington mit einer feingliedrig strukturierenden Sichtweise der Stimmlinien. So versteht er etwa die langsame Einleitung der „schottischen“ Sinfonie (Andante con moto) als einen lebendigen, ungeahnt diffizilen Organismus. Sehr flexibel und biegsam in der Temponahme und hoch sensibel spürt Norrington der musikalisch-thematischen Textur und derem Beziehungsgeflecht im nachfolgenden Allegro un poco agitato nach. Und die dynamischen Anweisungen im Finalsatz nimmt Norrington ernst: In sich dynamisch fein strukturiert, gleich einer initialen Entladung, der ein abebbendes Nachbeben folgt, lässt er den Puls hier federn und befreit ihn von jeglicher Starre. Einen triumphalen Gestus setzt er dem Schlussabschnitt auf, doch er bewahrt ihn vor falschem Pathos.
Dem Ausufern des Temperaments im Kopfsatz der „italienischen“ Sinfonie legt Norrington gewisse Zügel an, stets spürbar ist hier seine ordnende Hand. Seine vielfältigen Tempomodifikationen fächern den musikalischen Entwicklungsverlauf feinfühlig auf. Im Finalsatz lässt es Norrington keineswegs an energetischer Kraft und Feuer fehlen, aber er versteht den Saltarello dabei mit höchster Differenzierungsfreude auch noch bis in den letzten Winkel auszuleuchten und selbst dort noch ein gestisches Potenzial freizulegen.
Bleibt noch die Reformations-Symphonie, mit der sich der Komponist etwas schwer tat und die auch dem Zuhörer einen unmittelbaren Zugang nicht eben leicht macht. Norrington bringt in deren Kopfsatz geschmeidige Flexibilität und er versteht, dessen Architektur mit einem beachtlichen Spannungsmoment auf eine organische Linie zu bringen. Weich weiß er die Ausdruckscharaktere im Allegro vivace zu überblenden, und der fasernden Faktur des Finales vermag er Zusammenhalt und dem Ganzen innere Zielgerichtetheit zu geben.
Thomas Bopp

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