Rameau, Jean-Philippe

Symphonies extraites des Fêtes de l’Hymen et de l’Amour

hg. von Thomas Soury, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2014
erschienen in: das Orchester 03/2015 , Seite 74

Das Rameau-Gedenkjahr 2014 – der Komponist starb 1764 – verlief im deutschen Sprachraum unspektakulär. Nur wenige Neuinszenierungen waren zu sehen – darunter Platée in Wien und Castor et Pollux in Berlin –, von etwaigen Bemühungen um ungehobene Schätze ganz zu schweigen. Das ist bedauerlich, denn wir sprechen von einem europäischen Giganten, in seiner Vielseitigkeit allein Händel vergleichbar. Gewiss, eine Händel-Partitur scheint leichter zugänglich, ihre Faktur vertraut, wohingegen Rameaus Musik in mehrerlei Hinsicht Expertentum einfordert: Die Chance, mit modernem Instrumentarium zu befriedigenden Ergebnissen zu gelangen, ist geringer als im Falle Händels oder Bachs. Zudem bedürfen die Besonderheiten der Verzierungen, der Rhythmik und Tanzcharaktere, die Ausgestaltung der vokalen und instrumentalen Linien intensiver stilistischer Studien. Rameau schüttelt man nicht aus dem Ärmel!
Andernorts war man mutiger: Im frankofonen Sprachraum erfuhr etwa ein wenig bekanntes Werk wie das Ballet héroique Fêtes de l’Hymen et de l’Amour diverse Bemühungen um Popularitätszuwachs. Eine Neuaufnahme unter der Leitung von Hervé Niquet erschien, diverse Aufführungen – beispielsweise am Théatre de la Monnaie in Brüssel, in Aix-en-Provence, aber auch ein Gastspiel des Théatre Lafayette in New York und Washington – sorgten für Aufsehen. In zufälliger oder beabsichtigter Koinzidenz erschien im Jahr 2014 auch der vorliegende Band der textkritischen Rameau-Gesamtausgabe. Er enthält sämtliche Instrumentalsätze aus Fêtes de l’Hymen. Da in diesem in der ägyptischen Mythologie verorteten, eher kaleidoskopartig denn stringent erzählten Bühnenwerk viel getanzt wird, beinhalten die „Symphonies extraites“ über 30 Instrumentalstücke unterschiedlicher Länge, von der zweiteiligen Ouverture oder einer umfangreichen Chaconne „für die Götter und Najaden“ bis hin zu knappen Contredanses und Rigaudons.
Die Auskoppelung lädt dazu ein, Rameaus kunstvolle Instrumentalmusik unabhängig von ihrer dramatischen Funktion zu betrachten – und aufzuführen, denn eine Suite aus Fêtes de l’Hymen wäre durchaus vorstellbar als Programmpunkt eines barocken Orchesterprogramms. Aber auch lesend genießen wir die Musik und stellen fest, wie deutlich sich der französische Orchestersatz von dem der deutschen oder italienischen Musik unterscheidet: Häufig werden alle Violinen unisono (teils gekoppelt mit Holzbläsern) geführt, darunter liegen die charakteristischen geteilten Bratschen, die stets obligat behandelten Fagotte und der Bass. Es entstehen Registerfarben und eine Klangbalance, die wir nach wenigen Tönen als unverkennbar französisch wahrnehmen. Ein fünfstimmiger Rameau-Satz klingt völlig anders als ein fünfstimmiger Bach-Satz.
Wunderbare Musik, exzellent dargeboten: Rameaus Opera Omnia – herausgegeben vom Bärenreiter-Verlag in Zusammenarbeit mit der Société Rameau unter dem Patronat des französischen Kultusministeriums – sind ein bedeutendes editorisches Projekt der Gegenwart.
Gerhard Anders