Johannes Brahms

Symphonies 3 & 4

Gewandhausorchester Leipzig, Ltg. Herbert Blomstedt

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Pentatone
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 68

95 Jahre ist Herbert Blomstedt am 11. Juli 2022 geworden – und er wollte diesen Tag in Leipzig verbringen. Dort war er von 1998 bis 2005 Gewandhauskapellmeister, ist seither Ehrendirigent und gibt immer wieder aufs Neue Konzerte. Leider musste sich Herbert Blomstedt zum Zeitpunkt seines Geburtstags von einem Sturz erholen, doch zukünftige Konzert-Termine stehen.
Leipzig ist auf jeden Fall eine wichtige Station in der künstlerisch reichen Biografie des schwedisch-amerikanischen Dirigenten. Dieser hat ja nicht unbedingt (erst) eine Alterskarriere gemacht. Was aber von Jahr zu Jahr weiter wächst, ist die Einsicht, dass der absolut uneitle und auch am Pult völlig frei von jeder Showattitüde agierende Blomstedt zu den absolut Größten seiner Zunft zählt. Seine Interpretationen werden – und das ist schlicht phänomenal – immer frischer. Das gilt auch für die vorliegende CD mit den Brahms-Sinfonien 3 und 4, die im April 2021 im Leipziger Gewandhaus aufgenommen wurden. Knapp 94 Jahre alt war Blomstedt hier, keine Hörerin und kein Hörer würde das bei diesem glasklaren, innerlich überaus belebten und wunderbar wandlungsfähigen und vielgestaltigen Musizieren ahnen.
Herbert Blomstedt war immer ein ganz auf die Sache konzentrierter Dirigent, der hörbar macht, was an tönend bewegter Form und geistiger Essenz in der Partitur niedergelegt ist. Private Gefühligkeit ist Blomstedt fremd. Ein Schwerpunkt seines Repertoires ist Bruckner, doch das heißt nicht, dass Brahms, dessen Wiener Antipode aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei Blomstedt nicht auch in den besten Händen ist. Die vorliegende Aufnahme als Abschluss eines Zyklus mit den vier Brahms-Sinfonien belegt dies jedenfalls sehr eindrucksvoll. Der Zugang zu der 3. und 4. Sinfonie ist bei Blomstedt offen und frei, weder klassizistisch-kühl noch schwerblütig-pathetisch. Vielmehr fasziniert die Klarheit und klangliche Weite, mit der der Dirigent den sinfonischen Verlauf entfaltet. Dieser hat immer eine zwingende Logik, wobei Blomstedt durchaus Akzente zu setzen weiß und exponierte Stellen sinnfällig betont. Die Qualität des traditionsreichen Orchesters wird bei dieser Aufnahme stets aufs Neue deutlich – und es ist auch am heimischen Endgerät zu spüren, wie eng die Verbindung der Musikerinnen und Musiker zu ihrem Ehrendirigenten ist und welche Früchte sie trägt.
Es ist ein bis in die letzte motivische Verästelung hinein sehr wissend disponierter Brahms, es ist aber zugleich auch einer von erfüllter Gesanglichkeit und natürlicher Wärme und Erhabenheit. Es ist ein im allerbesten Sinne menschlicher Brahms, der auf berührende Weise hörbar macht, wie viel Empfindung sich bei diesem Komponisten hinter den sich kunstvoll entwickelnden musikalischen Gestalten verbirgt. Karl Georg Berg