Anton Bruckner

Symphonien 1-9

Berliner Philharmoniker

Rubrik: Blue-ray
Verlag/Label: Berliner Philharmoniker Recordings
erschienen in: das Orchester 07-08/2020 , Seite 67

Es gibt kaum ein Ensemble, das besser als die Berliner Philharmoniker verstanden hat, dass klassische Musik zum Erlebnis werden muss, wenn sie weiter ihr Publikum erreichen will. Einen digitalen Konzertsaal schon vor über zehn Jahren etabliert zu haben, erweist sich nun in Zeiten von Corona als prophetisch. Die aktuelle Freischaltung des Angebots für alle Nutzer eröffnet die Chance, Zuhörer nachhaltig zu binden. Andere Orchester werden nachziehen müssen, denn die Corona-Krise kann für den Konzertbetrieb nicht ohne Folgen bleiben. Eine neue, opulent ausgestattete Audio- und Videobox der Berliner Philharmoniker mit allen Bruckner-Sinfonien bedient auf den ersten Blick die herkömmlichen Vertriebswege. Doch natürlich sind alle neun Aufnahmen längst in der Digital Concert Hall verfügbar – die Box wird damit zur Auskopplung aus einem gigantischen Medienpool. Was in em Paket geboten wird, kann sich freilich sehen lassen: Zunächst bemerkenswert tiefgreifende Aufsätze zur Bruckner-Rezeption (Richard Taruskin) und zur Geschichte der Bruckner-Aufführungen in Berlin (Volker Tarnow). Manko: Benedikt von Bernstorff stellt zwar die acht Dirigenten der Edition vor, vermeidet jedoch eine Einordung ihres Bruckner-Stils. Zur Musik: Ausgewählt wurden neuere Aufnahmen (keine vor 2009) lebender Dirigenten (mit Ausnahme des kürzlich verstorbenen Mariss Jansons), womit Simon Rattle als einziger Chefdirigent des Orchesters übrig bleibt. Mit Herbert Blomstedt, Bernard Haitink, Mariss Jansons, Seiji Ozawa und Zubin Mehta sind überwiegend Altmeister vertreten, hinzu gesellen sich mit Paavo Järvi und Christian Thielemann zwei Maestri der mittleren Generation. Deutlich ist das Bemühen um internationale Vielfalt, damit Bruckner keine deutsche Angelegenheit bleibt. Bekannt sind alle Namen, was freilich kein Garant für Qualität ist. Eine richtige Enttäuschung ist allerdings nur die behäbige, wenig inspirierte Einspielung der monumentalen Achten mit Zubin Mehta. Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt die beliebte Siebte mit Christian Thielemann, dem Klangmagier in der Nachfolge Karajans und Vertreter einer Mischklang-Ästhetik. Vor lauter Wagner-Weben geraten Struktur und Entwicklung etwas aus dem Blick. Spannend sind hingegen die Aufnahmen der wenig bekannten ersten und zweiten Sinfonie: Seiji Ozawa verhilft der Ersten zu packender, regelrecht szenischer Präsenz. Paavo Järvi präsentiert eine feingeschliffene, bekenntnishafte Zweite. Der Niederländer Bernard Haitink ist gleich zweimal vertreten: Seine Vierte und Fünfte sind nur scheinbar unspektakulär, abgerundet in ihrem Gesamtklang und folgen architektonisch einem klaren Plan. Bei Haitink wird die zerklüftete Fünfte fassbar. Ganz anders die Sechste von Mariss Jansons, die straff und ruhelos, persönlich und tragisch daherkommt: Das ist Bruckner mit Mahler-Brille. Höhepunkte der Box sind die glasklar strukturierte Mätzchen-freie Dritte von Herbert Blomstedt und die eruptiv-ausdrucksvolle Neunte mit Simon Rattle – inklusive rekonstruiertem viertem Satz.
Johannes Killyen