Anton Bruckner
Symphonien 1 & 9
Lucerne Festival Orchestra, Ltg. Claudio Abbado
Im Gedächtnis blieb Claudio Abbado den meisten besonders als herausragender Interpret der Sinfonien Gustav Mahlers. Erst spät, in seinen letzten Lebensjahren, kam der Italiener zu Anton Bruckner. Das Konzert am 26. August 2013 in Luzern, getragen wohl schon von der Vorahnung, dass es sein letztes sein würde, bescherte außergewöhnliche Sternstunden. Der damals 80-Jährige stellte Schuberts Unvollendete, auf dieser CD leider nicht enthalten, neben Bruckners Neunte. Ich saß damals im Publikum und fühlte mich an den genialen Bruckner-Dirigenten Sergiu Celibidache erinnert. Angesichts der extrem unterschiedlichen Persönlichkeiten dieser beiden Ausnahmekünstler mag das verblüffen, erklärt sich wohl aber im Hinblick auf ihre Wiedergaben bestimmende Spiritualität und Entrücktheit.
Der späte luzide, transzendente Musizierstil, den Abbado ausprägte, hatte freilich mit seiner Krebserkrankung zu tun, die er lange Zeit wundersam mit der Musik zu besiegen schien. Er vermittelt sich sehr eindrücklich in dem Konzertmitschnitt, vorzugsweise, wenn die Musik ganz, ganz leise und jenseitig wird wie im eröffnenden „Feierlich, misterioso“ und im langsamen, feierlichen Adagio. Und was für ein magischer Moment, wenn in diesem Satz auf einmal die Dramatik vor den Violinen weicht, die mit schwerelosen elysischen hohen Schwebetönen engelsgleich das Licht in die Musik zurückbringen. Zu einer Offenbarung werden diese Sätze freilich auch dank des luxuriösen Lucerne Festival Orchestra, in dem sich mit ausgewählten Freunden des Dirigenten herausragende Solisten versammeln. Niemand könnte die Flöten- und Oboensoli zärtlicher und anrührender spielen.
Zu Abbados Spezialitäten gehört es gleichfalls, die Zeit anzuhalten, wenn die Musik auf eine Generalpause, Fermate oder eine Zäsur zusteuert, und in Momenten totaler Stille die Spannung zu wahren. Das Verhallen machtvoller Posaunenklänge bis zur Unhörbarkeit ist bestimmt von einem andächtigen Nachlauschen. Bei alledem besitzt Abbado in jedem Satz zwischen Brüchen und Neuanfängen stets ein Gespür für den großen Bogen.
Der zweite Mitschnitt aus dem Jahr 2012 mit Bruckners viel zu selten aufgeführter Erster beschert musikalisch eine ebenso treffliche Einstudierung, nur dass hier, vor allem in dem vulkanischen, kraftstrotzenden Finale, die Begrenztheiten moderner Aufnahmetechnik schwerer ins Gewicht fallen. Die Fortissimo-Klänge tönen etwas klobig und klotzig. Live in der wunderbaren „Salle blanche“ hörte sich das anders an: transparenter, reicher im klanglichen Spektrum und kompakter. Dies auch dank adäquater, bedächtiger, nie zu schneller Tempi. Abbado gibt der Musik in ihrem Fortschreiten alle Zeit der Welt. Da sind wir wieder bei Celibidache; der wusste schon, warum er die Konserve ablehnte.
Am Schönsten in diesem Mitschnitt ist das energiegeladene Scherzo mit seinem verinnerlichten Trio. Das kecke Hauptmotiv erinnert fast ein bisschen an die Tonsprache Prokofjews, herrlich erfrischend von Abbado mit seinem Freundesorchester musiziert, setzt es sich wie ein Ohrwurm beim Hörer fest.
Kirsten Liese