Ludwig van Beethoven
Symphonien 1–9
Berliner Philharmoniker, Ltg. Simon Rattle
Gesamtaufnahmen der neun Beethoven-Symphonien gibt es mehr als genug. Haben wir trotzdem auf die neue Einspielung von Simon Rattle mit seinem Eliteorchester gewartet? Bringt sie uns neue Erkenntnisse, brauchen wir sie? Natürlich ist es nachvollziehbar, dass der scheidende Chef es seinen Vorgängern gleichtun und auch seine Sicht der Dinge der Nachwelt präsentieren möchte.
Die besondere Qualität dieses Orchesters steht außer Frage, sie bedurfte keines neuen Belegs. Und auch auf diesen, aus mehreren Liveauftritten (2015) erstellten CDs demonstrieren die Musiker ihre umwerfende Virtuosität. Dazu animiert werden sie durch ihren Chef, insbesondere in manchen rasanten Tempi, denen allerdings doch manches Detail vor allem in mehreren Scherzo- und Finalsätzen zum Opfer fällt. Charakteristisch ist die fast maschinell daherkommende Präzision des Orchesterspiels; man fragt sich gelegentlich, ob nicht ein Metronom statt eines lebendigen Dirigenten gereicht hätte (Finale 1. Symphonie).
Insgesamt ist der überwiegende Eindruck, zumindest in vielen schnellen Sätzen, der eines nervösen Gehetztseins, eines ständigen Vorwärtsdranges und Angetriebenseins. Das liegt weniger an den gewählten Grundtempi, die sich offensichtlich an Beethovens eigenen (umstrittenen) Metronomangaben zu orientieren scheinen. Was fehlt, ist vielmehr innere Gelassenheit, ein Lockerlassen der Zügel, ein entspannteres, freieres Musizieren dieser so exzellenten Musikervereinigung. Eher selten lässt Rattle solche Freiheiten zu, lässt der Musik Zeit zu atmen, gönnt ihr agogische Freiheiten. Umso überraschender ist es dann, wenn er für einige der langsamen Sätze auffallend ruhige Tempi wählt, etwa in der Vierten oder – besonders unerwartet – im Allegretto der Siebten, das hier wieder einmal zum Trauermarsch gedehnt wird.
Es ist eine Grundsatzfrage der Beethoven-Interpretation, ob und wie viel Pathos man zulässt. Nicht ganz unerwartet interessieren Rattle musikalische Details stärker als weltanschauliche Aussagen und Überhöhungen. So verzichtet er im Kopfsatz der Eroica auf alles Heldische und eilt stattdessen mit großer innerer Distanz durch diesen komplexen Satz. Zu diesem Ansatz passen die beiden eröffnenden Tuttischläge, die Rattle nur beiläufig krachen lässt, als seien sie lästige Zutat. Und die so oft zur Schicksalsmusik überhöhte Fünfte wird, zumindest in den drei schnellen Sätzen, geradezu vorwärtsgepeitscht. Der sportliche Aspekt des Musizierens wird hier bis an seine Grenzen ausgereizt. Zwar wird auch im schnellsten Tempo kein Ton ausgelassen, aber man spürt doch den permanenten Druck, dem die Musiker – vor allem die Bläsersolisten – ausgesetzt sind.
Ein interpretatorisches Gesamtkonzept lässt sich in diesen Aufnahmen kaum erkennen. Rattle meidet, wie gesagt, jedes Pathos und neigt hörbar den eher „absoluten“ Symphonien zu, die nicht im Verdacht weltanschaulicher Aussagen stehen. Und doch verblüfft dann die Wiedergabe der Pastorale, in der die Musik auf einmal frei ausschwingen und atmen darf und in der Rattle betörende Übergänge gelingen wie der zwischen viertem und fünftem Satz. Die „Szene am Bach“ wird gar zum Musterbeispiel entspannten, ausdrucksvollen Musizierens, und das abschließende kleine Vogelkonzert hat man kaum jemals so eindringlich hören können.
Dass Rattle das Finale der Neunten zu einem mächtigen Tableau der Vokal- und Instrumentalvirtuosität türmen würde, war zu erwarten. Nur: Warum müssen die Bässe ihr berühmtes Instrumentalrezitativ so betont unpathetisch und fast beiläufig abliefern? Das Solistenquartett (Annette Dasch, Eva Vogel, Christian Elsner, Dimitry Ivashchenko) und der Rundfunkchor Berlin fügen sich in dieses Konzept nahtlos ein. Lediglich die recht russisch gefärbte Deklamation des Bassisten („O Freunde, nicht diese Töne!“) fällt aus dem Rahmen. Aber auch hier wird der langsame Satz zu einem wohltuend ausmusizierten Ruhepunkt, wobei besonders die unmerkliche, organische Beschleunigung zum zweiten Gesangsthema hin zu überzeugen vermag.
Das klangliche Erscheinungsbild dieser Aufnahmen ist relativ grob und scharf, gelegentlich unausgeglichen. Vor allem im Tutti fällt häufig die Orientierung des Gesamtklangs an den hohen Instrumenten auf, zulasten des Bassfundaments. Bisweilen klingen die hohen Holzblasinstrumente, vor allem die Flöte, fast synthetisch kühl, also ganz anders, als man es von den hochkarätigen Berliner Solisten eigentlich erwartet. Die klangliche Unausgeglichenheit ist sicher auch manchen aus der historischen Aufführungspraxis bezogenen Ansätzen zu danken (dosiertes Vibrato, lärmende Paukenwirbel…). Dabei ist die Orchesterbesetzung doch alles andere als „historisch informiert“, nämlich groß und modern. Auffällig ist Rattles Vorliebe für schmetternde Tuttis, mit oft krachenden Paukeneinschlägen und wirbeln. Überhaupt neigt der Klang im großen Orchestertutti oft zum undifferenziert lärmenden Fortissimo.
Abschließend eine etwas provokante Antwort zu den eingangs gestellten Fragen: Zieht man eine mehr als fünfzig Jahre alte Vorgängereinspielung zum Vergleich heran (Karajan/Berliner Philharmoniker 1963), dann ist das Ergebnis doch sehr überraschend. Bei häufig ähnlicher Tempowahl klingt die alte Aufnahme aus den Anfangsjahren der Stereofonie nämlich runder, voller, wärmer und vor allem aufnahmetechnisch alles andere als überholt. Hier gibt es bei aller vergleichbaren Virtuosität des Orchesterspiels viele Momente atmender Ruhe und Gelassenheit; so entsteht wie von selber das klingende Porträt einer unverwechselbaren Orchesterpersönlichkeit. Die Neuaufnahme dagegen klingt relativ unpersönlich, austauschbar und im interpretatorischen Ansatz und auch klanglich recht uneinheitlich. Sie könnte auch von einem der amerikanischen Spitzen-Orchester stammen. Eine Lücke im Angebot füllt sie deshalb doch eher nicht.
Arnold Werner-Jensen