Gustav Mahler

Symphonien 1-10

Berliner Philharmoniker, Ltg. Daniel Harding, Andris Nelsons, Gustavo Dudamel, Yannick Nézet-Séguin, Kirill Petrenko, Simon Rattle, Bernhard Haitink, Claudio Abbado

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Berliner Philharmoniker
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 71

„Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Und so hat Gustav Mahler für jede seiner Sinfonien ein monumentales Klanguniversum entworfen. Viel persönliches Erleben ist darin eingeflossen und in geradezu beängstigender Eindringlichkeit verarbeitet: Liebe, Leben, Leidenschaft, Vergänglichkeit, Krankheit, Todesahnungen, eheliche Untreue. Und so steht mithin Monumentales neben Zartem, Spirituelles neben Profanem, das Tragische neben dem Grotesken, Verzweiflung neben Hoffnung auf Erlösung, das Direkte neben Doppelbödigem.
Daneben verband er in seinen Werken immer wieder Musik und Literatur, griff auf Volksdichtungen (Des Knaben Wunderhorn), Texte von Friedrich Rückert oder Goethes Faust zurück. Bei der Interpretation dieser musikalischen Universen verlangt die sinngerechte Gestaltung nach größtmöglichem Einsatz und unbedingter Hingabe. Die Berliner Philharmoniker verfügen darüber, denn sie können auf eine lange Mahler-Tradition zurückblicken. Schließlich hatte der Komponist mit ihnen seine 2. Sinfonie („Aufersteh’n“) anno 1895 uraufgeführt.
Die vorliegende Edition mit den Sinfonien 1-9 und dem Adagio der unvollendeten Zehnten dokumentiert den aktuellen Stand der Mahler-Rezeption auf zehn CDs und vier Blu-ray-Discs. Aufgenommen wurden die Sinfonien zwischen 2011 (Abbado) und 2020 (Petrenko).
Über die Jahre hinweg sind perfektes Miteinander der Musiker auf hohem Niveau geblieben, begeistern die durchweg klangschlanken, sowohl schwelgerisch erblühenden als auch aufbrausenden Entfesselungen. Konfliktgeballte Weltbeschau zwischen Chaos und Naturjubel, gepaart mit harmlos scheinender Volkstümlichkeit und kontrastiert mit makabrem Hohn und traumhafter Utopie zeichnen die Dudamel’sche Lesart der 3. Sinfonie aus. Nicht weniger zügellos und klangopulent lässt Simon Rattle die 7. Sinfonie in grell-bedrohlicher Zwielichtigkeit erklingen, während er unter enormer Intensität aller Beteiligten (Rundfunkchöre aus Leipzig und Berlin, Knaben des Staats- und Domchors Berlin sowie exzellentem Solistenaufgebot) die 8. Sinfonie effektvoll wiedergibt.
Vom himmlischen Leben in kindlich-naiver Doppelbödigkeit singt Christiane Karg in der 4. Sinfonie ein sopranliebliches Liedlein, dabei von Yannick Nézet-Séguin detailreich und akzentuiert begleitet. Klanggeschärfte Konflikte meißelt Kirill Petrenko aus der 6. Sinfonie, die zwischen schicksalhafter Unentrinnbarkeit, Trivialität und hart hämmernden Marschrhythmen pendelt. In der 9. Sinfonie entdeckt Bernhard Haitink versonnene Melancholie und apokalyptische Düsternis, während Claudio Abbado im Adagio der Zehnten den seelischen Liebestod des Komponisten zwischen Schmerzhaftem und Diabolischem plastisch zu gestalten versteht. Neben den Tonträgern enthält die Box ein umfangreiches Booklet mit Werkerläuterungen und leselohnenden Essays.
Peter Buske