Antonín Dvořák

Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 ” Aus der Neuen Welt”

Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 60

Die Historische Aufführungspraxis und die Musikphilologie haben mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick denken mag. Ohne die großen Werkausgaben des 19. Jahrhunderts und die damals aufkommenden Denkmälerausgaben wären viele Werke vor allem der vorklassischen Zeit nicht greif- und aufführbar gewesen. Doch mit der Entwicklung einer die histo­rischen Quellen konsequent befolgenden Spielweise wuchs natürlich auch das Bedürfnis nach immer genaueren und besseren Werkausgaben, die ihrerseits den Willen des jeweiligen Komponisten so präzise wie möglich wiedergeben. Und da ja selbst die Werke der größten Meister lange und zum Teil noch immer in nicht unanfechtbaren Versionen vorlagen oder vorliegen und gespielt werden, haben die ambitionierten Projekte wie die Neue Bach- oder Neue Mozart-Ausgabe schon eine gewaltige Wirkung für die musikalische Praxis. Ein schwerwiegender Fall waren die mehr oder weniger zuverlässigen Ausgaben von Beethovens Symphonien. Das änderte sich erst vor einem Vierteljahrhundert mit der Kritischen Ausgabe von Jonathan Del Mar bei Bärenreiter, die eine neue Sicherheit beim Notentext brachte. Sie hat sich nicht nur bei Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis durchgesetzt, auch sehr prominente Dirigenten wie Bernhard Haitink oder Claudio Abbado haben sie benutzt – und das hatte Auswirkungen auf deren Interpretation. Es ist sehr zu wünschen, dass auch die neue Ausgabe von Jonathan Del Mar eine ähnliche Wirkung entfalten wird, denn sie ist einer der populärsten Symphonien des 19. Jahrhunderts gewidmet, der neunten von Antonín Dvořák Aus der Neuen Welt. Diese ist ja zumindest bei Jos van Immerseel auch schon Gegenstand einer historischen Aufführung mit alten Instrumenten gewesen – und auch Roger Norrington hat eine historisch informierte Wiedergabe von Rang vorgelegt. Dazu gibt es nun dank Jonathan Del Mar auch den kritischen Notentext, der in vielerlei Punkten Klarheit bei diesem Werk schafft. Der englische Musikwissenschaftler hat dabei die bekannten Quellen genau durchgesehen und neue für seine Ausgabe in den Blick genommen, so zum Beispiel die Notizen zu einem Gesprächskonzert, das Dvořák kurz vor der Erstaufführung abhielt. Dadurch wird klar, dass es Dvořáks Wille war, dass im vierten Takt der auffällige Hornruf auf dem dritten Schlag sein soll, so wie es auch in der Erstausgabe steht. Im Finale bringt Del Mar in Takt 227 pp wie im Autograf, verweist aber darauf, dass schon in den ersten Proben womöglich mit Dvo­řáks Zustimmung hier f gespielt wurde, womit das vorausgehende Crescendo zielführend wird und es zu keiner plötzlichen Zurücknahme der Dynamik kommt. Einem viel gespielten Standardwerk des sinfonischen Repertoires können dank dieser neuen Ausgabe neue Facetten abgewonnen werden. Es kann in Tendenz neu gehört und erlebt werden. Warum soll das, was Jonathan Del Mal bei Beethoven gelungen ist, ihm nicht auch bei Dvo­řák gelingen?
Karl Georg Berg