Beethoven, Ludwig van

Symphonie Nr. 9

Elisabeth Schwarzkopf, Elsa Cavelti, Ernst Haefliger, Otto Edelmann, Lucerne Festival Chorus, Philharmonia Orchestra, Ltg. Wilhelm Furtwängler

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Audite 95.641
erschienen in: das Orchester 05/2015 , Seite 78

Wie wird man einer solchen über sechzig Jahre alten Liveaufnahme gerecht? Wenige der Mitwirkenden dürften noch leben – darf man dann überhaupt rezensieren? Nicht nur der aufnahmetechnische Standard ist heute unvergleichlich viel besser als 1954, auch die Spielkultur der Spitzenorchester ist noch einmal gestiegen, was man auch auf dieser CD hört, selbst wenn es sich um einen Livemitschnitt handelt. Andererseits: Den Mythos Furtwängler scheint es immer noch zu geben (oder doch nicht?), warum sonst wird eine solche Aufnahme heute veröffentlicht? Natürlich handelt es sich durch die Mitwirkenden und die Umstände der Aufnahme um ein historisches Dokument, daraus bezieht sie ihre Rechtfertigung, dadurch aber schränkt sich ihr Abnehmerkreis auch ein.
Abgesehen von Mythos und Dokument aber stellt sich die Frage: Füllt diese CD irgendeine Lücke? Klanglich und aufnahmetechnisch, wie gesagt, nicht, auch nicht bezogen auf das Niveau der Solistenbesetzung: Erwartungsgemäß gut singen Elisabeth Schwarzkopf (Sopran) und auch der junge Tenor Ernst Haefliger; die Altistin Elsa Cavelti ist (partiturgemäß) kaum wahrnehmbar, Otto Edelmann dröhnt seine Soli altväterlich routiniert („Brüdor!“). Der Luzerner Festspielchor meistert alle Ansprüche, auch die gefürchteten Dauerhöhen, und das Philharmonia Orchestra aus London bemüht sich recht erfolgreich, Furtwänglers sehr subjektiver und impulsiver Sichtweise zu folgen. Sein Ansatz ist gravitätisch und dramatisch, dabei häufig extrem von Beethovens Tempovorschriften und Metronomangaben abweichend. Der Kopfsatz türmt die Steigerungen gewaltig auf, neigt bei großen Crescendi häufig zur Beschleunigung, zelebriert vorgeschriebene oder auch eigenmächtige Ritardandi genüsslich und zerdehnt den langsamen Satz in einer Weise, dass man vor allem den unendlichen Atem der Holz- und Blechbläser bewundern muss. Besonders hier erweist sich die Atmosphäre einer lebendigen Aufführung als nicht mehr vermittelbar, die Musik scheint bisweilen zu erstarren.
Sieht man diese Aufnahme nüchtern als eine unter vielen verfügbaren, dann gibt es – bei aller Ehrfurcht – in jeder Hinsicht bessere, aufnahmetechnisch ohnehin, und zwar schon wenige Jahre nach diesem Mitschnitt. Eine in ihrem Ansatz verwandte, wenn auch nicht so extrem subjektive Interpretation, vor allem bezogen auf Tempi und Ausdrucksgewalt, brachte beispielsweise Ferenc Fricsay wenig später heraus (1957). 1963 legte Herbert von Karajan seine ebenfalls stereofone, partiturgetreue, spieltechnisch perfekte, dynamische und ausdrucksstarke Version vor. Beide Aufnahmen erfolgten mit den Berliner Philharmonikern, sind bis heute lebendig und maßstäblich geblieben und machen diese Furtwängler-Version eigentlich entbehrlich.
Arnold Werner-Jensen