Ludwig van Beethoven

Symphonie Nr. 9

d-Moll op. 125, hg. von Beate Kraus unter Mitarbeit von Bernhard R. Appel, Koreferat Christine Siegert

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 65

Die vorliegende, im Rahmen der Beethoven-Gesamtausgabe maßgeblich von Beate Kraus betreute Edition der 9. Symphonie Beethovens mit beigebundenem ausführlichem Kritischen Bericht zählt zweifellos zu den wichtigsten und gewiss auch bleibenden Publikationen des Beethoven-Jahres 2020. Sie legt nicht nur den textkritisch erarbeiteten, schlechterdings vorzüglich gedruckten Notentext vor, sondern widmet sich besonders auch, wie die Herausgeberin in ihrem knapp einführenden Vorwort herausstellt, der Entstehungsgeschichte, dem Werktitel, der Frage der Kontrafagott-Stimme, dem Schiller-Text und der Textunterlegung im Finale (Worttrennung nach gedehnten Vokalen, zum Beispiel „A – lle“, „Ste – rnen“, „sa – nfter“) und den immer wieder diskutierten Metronom-Angaben. Sie stellt auch ausführlich die ersten Aufführungen der Symphonie dar oder erörtert die Fragen der Wiederholungen im II. Satz.
Doch bereits die Sammlung aller ermittelbarer Quellen (von den Partitur-Autografen über Abschriften, Stimmenmaterialien, Herstellungsvorlagen, Korrekturverzeichnissen, Ausgaben, Skizzen bis hin zu einschlägigen Briefwechseln) sowie die Beschreibung dieser Quellen geben der Edition eine wissenschaftliche Fundierung, wie sie gründlicher kaum zu denken ist, und führen zugleich in philologische Fragen ein, die etwa auch aus der geschäftstüchtigen Fragmentierung von Beethovens Autografen und der Rekonstruktion ihrer ursprünglichen Anlagen entstehen.
Die Hauptprobleme der Edition der Symphonie ergeben sich, wie die Herausgeberin verdeutlicht, aus Beethovens Weiterentwicklungen oder doch Änderungen des Notentextes in verschiedenen authentischen Quellen, ohne dass er diese aufeinander abstimmte und ihre Geltung in einer zuverlässigen „Fassung letzter Hand“ endgültig entschied; Kraus erläutert: „Keine Quelle bzw. Quellengruppe allein enthält einen definitiven und vollständigen Werktext, im Gegenteil: viele von ihnen repräsentieren einen von Beethoven zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Zweck autorisierten Text.“ Als Hauptquellen (neben einer Reihe von Nebenquellen) für die vorliegende Edition wählt die Herausgeberin, gut begründet, die autografen Vorlagen, nach denen die Stichvorlage ausgeschrieben wurde, sowie diese selbst, die Beethoven 1825 dem Schott-Verlag zuschickte, ergänzt durch die Kontrafagott-Stimme in der Fassung der Ausgabe der Stimmen von 1826.
Die wahrhaft komplexen, fast schon prohibitiv wirkenden editorischen Fragen, die zu lösen waren, lassen sich dem unbefangenen Nutzer nur durch ein Streben nach größtmöglicher Verständlichkeit der Darstellung vermitteln. Und das ist im Kritischen Bericht vorzüglich gelungen. Das Studieren Kritischer Berichte gilt weithin als mühselig, langweilig, ja als lästig. Aber hier hat Beate Kraus vorbildlich einen sehr gut zu lesenden Text vorgelegt, der nicht nur wirklich umfassend, zuverlässig und zugleich auch konzentriert informiert, sondern dessen Lektüre mit seiner stupenden Erkenntnisfülle geradezu Vergnügen bereitet.
Giselher Schubert