Mieczysław Weinberg
Symphonie Nr. 6 op. 79/ 21 Leichte Klavierstücke op. 34
Elisaveta Blumina (Klavier), Konzertchor Rutheneum, Philharmonisches Orchester Altenburg Gera, Ltg. Laurent Wagner
Bis zum Jahr 2010, als die Bregenzer Festspiele seine Holocaust-Oper Die Passagierin 42 Jahre nach ihrem Entstehen und 14 Jahre nach seinem Tod herausbrachten, hatte hierzulande kaum jemand den Namen Mieczysław Weinberg gehört. Jüdischer Abstammung, floh er beim Überfall der Wehrmacht auf Polen von Warschau nach Minsk und 1941 weiter bis Taschkent in der Sowjetrepublik Usbekistan.
Auf sein Schaffen aufmerksam geworden, erwirkte ihm Dmitrij Schostakowitsch 1943 die Zuzugsgenehmigung für Moskau, wo Weinberg den Rest seines Lebens verbrachte. Im Zuge der Verfolgung der sogenannten Kreml-Ärzte, die Stalin angeblich nach dem Leben trachteten, inhaftiert und verhört, zog er es vor, im Verborgenen schaffend die Wertschätzung der besten Musiker seines Gastlandes zu genießen, statt sich als Opfer zu stilisieren und um öffentliche Anerkennung zu buhlen. Die ihm zu Gorbatschows Zeiten dennoch zuteilwurde.
In friedlichem Wettstreit mit Schostakowitsch, als dessen Schüler im Geiste er sich bekannte, schenkte Weinberg seiner Mit- und Nachwelt unter anderem 17 Streichquartette und 22 Symphonien (zwei bzw. sieben mehr als jener) – eine Terra incognita im Schatten des Erstgenannten, in welche Laurent Wagner, seit 2013 GMD am Theater Altenburg Gera, nun mit dem Philharmonischen Orchester Altenberg Gera und dem Konzertchor des dortigen Rutheneums mit der Symphonie Nr. 6 op. 79 (1962/63) eine markante Bresche schlägt.
Wiewohl nur kurz nach Schostakowitschs 13. Symphonie op. 113 entstanden und wie diese ein chorsinfonisches Memento für die 33 000 Opfer des Massakers an den Juden, das Gestapo und SS 1941 in der Schlucht von Babi Jar (Ukraine) anrichteten, geht Weinbergs Sechste doch formal (und gradweise auch stilistisch) eigene Wege. Sie ist seine erste Symphonie mit menschlichen Stimmen. Sie lassen sich in drei der fünf Sätze hören: dem zweiten, vierten und letzten.
Im einleitenden Adagio nistet das Grauen. Der melodische Faden reißt, zwischen hohen und tiefen Orchesterstimmen klafft ein Abgrund. Der zweite Satz fußt auf einem Gedicht von Lew Kwitko: Mit seinem selbstgebauten „Geiglein“ verbirgt sich ein kleiner Junge in einem Baum, den Soldaten am Ende zu Fall bringen. Nach einem wilden Scherzo intoniert der Chor das Epitaph „In rotem Lehm ist ein Graben ausgehoben“ des Dichters Shmuel Halkin (gleichfalls Jude und unter Stalin verfolgt), das den Kindermord der „faschistischen Henker“ geißelt. Der Finalsatz „Schlaft, Menschen“ bedient sich des Zukunftstraums eines regimetreuen sowjetischen Poeten: „Die Sonne wird aufgehen/und Geigen werden vom Frieden auf Erden singen.“ Eine Schlusswendung, die heute trivial anmutet.
Neckische Zugabe nach dieser großartigen, bewegenden Orchester- und Chorleistung: Weinbergs 21 (gar nicht so) Leichte Stücke für Klavier: Kinderszenen à la russe, von der exzellenten Pianistin Elisaveta Blumina wie aus dem Bilderbuch ausgestochen.
Lutz Lesle