Anton Bruckner

Symphonie Nr. 6

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Mariss Jansons

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BR Klassik 900190
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 82

Nach dem viel zu frühen Tod seines großen Chefdirigenten Mariss Jansons Ende 2019 pflegt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hingebungsvoll dessen Erbe. Zum ersten Todestag am 1. Dezember hat das Ensemble ein Video mit Puccinis Streichquartettsatz Crisantemi auf seine Website gestellt. Kunstminister Bernd Sibler hält ein Grußwort, es gibt Aufzeichnungen von Proben und Interviews.
Nach und nach kommen auch bislang unveröffentlichte Aufnahmen mit dem vielseitigen Dirigenten auf den Markt. Gleichwohl stehen seine Einspielungen mit Musik der spätromantischen Titanen Mahler, Bruckner und Strauss im Mittelpunkt. Warum immer wieder dieses Triumvirat? Weil sich damit leicht die Qualität eines Orchesters beglaubigen lässt und der bürgerliche Konzertbetrieb danach verlangt, vor allem jedoch, weil Jansons zu allen drei Komponisten etwas Persönliches zu sagen hat.
Dem von seinem Lehrer Herbert von Karajan vorgegebenen Weg des wolkigen Mischklangs ist er nicht gefolgt, sondern hat der Spätromantik mit Transparenz, Klarheit und Expressivität das Schwülstige ausgetrieben. Weiß man, welch harter, ehrlicher Arbeiter und zugleich aufrichtiger Mensch Jansons zahllosen Berichten zufolge gewesen sein muss, hört man seine Aufnahmen umso lieber. Bruckner-Sinfonien hat er mit dem BR-Symphonieorchester mehrfach aufgenommen, das heißt, es wurden Konzerte mitgeschnitten, die besonders lebendige Klangeindrücke vermitteln. Nach der dritten, vierten, siebten, achten und neunten Sinfonie liegt nun auch die sechste vor, in einer Aufnahme aus dem Jahr 2015 im Münchner Gasteig. Interessant, dass Jansons auch in der aktuellen Bruckner Edition der Berliner Philharmoniker mit diesem Werk vertreten ist.
Die sechste gehört zu den kürzeren Sinfonien Anton Bruckners. Sie wurde Anfang der 1880er Jahre komponiert, und es gibt im Grunde nur eine Fassung von ihr. Das Schwergewicht liegt (noch) nicht auf dem Finale, sie ist prägnant in ihrer Anlage, bis hinein in die Motive und Themen; insgesamt herrscht hier eine auffallende Leichtigkeit vor, soweit man davon bei Bruckner sprechen kann.
Diesen Grundcharakter greift Jansons mit dem großartigen BR Symphonieorchester auf, das auch live so gut wie keine spielerischen Makel zeigt. Es federn im ersten Satz die Punktierungen der Blechbläser und Transparenz bestimmt noch in der kleinsten Begleitfigur das Klangbild, etwa bei Girlanden im Holz und Repetitionen der Streicher. Phrasen werden liebevoll ausmusiziert, der große Gesang im zweiten Satz klingt leicht und beinahe heiter, schwungvoll athletisch das Scherzo – und niemals steht die Musik still.
In Erinnerung bleibt folglich nicht die überirdische Erhabenheit, die Bruckner oft zugeeignet wird, und auch nicht der Masterplan einer sakralsinfonischen Großarchitektur. Vielmehr lässt Mariss Jansons hier – ein wenig im Geiste Mahlers – ganz persönliche Gefühle zu Wort kommen. Anton Bruckner begegnet uns als Mensch.
Johannes Killyen