Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

Symphonie Nr. 5

in e-Moll op. 64, hg. Christoph Flamm

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel
erschienen in: das Orchester 02/2020 , Seite 61

Die Entstehungsgeschichte der 5. Symphonie ist von Beginn an mit schweren Skrupeln des Komponisten beladen, die sich bis in die Faktur des Werks selbst fortsetzen.
Zunächst unentschieden, das Werk der Londoner Philharmonischen Gesellschaft oder dem Hamburger Kunstfreunde Theodor Avé-Lallement zu widmen, entschied Tschaikowsky sich für Letzteren. Unentschieden ebenfalls, der Komposition ein Programm zu unterlegen, blieben die fragmentarischen Angaben als „inneres Programm“ schwebend und künden von Sehnsucht, Begehren und Schicksal in nur allgemeiner Form. Zunächst beschrieb der Komponist seine frühen Versuche, eine Symphonie aus „seinem Hirn zu quetschen“, und bezeichnete sie nach den ersten, zwiespältig aufgenommenen Vorführungen als „unehrlich“.
Schon wollte Tschaikowsky zahlreiche Änderungen in der Instrumentation vornehmen, als das glänzende Konzert in Hamburg seine Meinung grundlegend änderte. Dennoch erweist sich die Partitur alles andere als eindeutig, da durch Äußerungen des Komponisten und der Dirigenten Arthur Nikisch und Willem Mengelberg, die sich gleichermaßen um das Werk verdient machten, einschneidende Änderungen vorgenommen wurden.
Differenziert und übersichtlich zugleich sind die zahlreichen Alternativen von der vorliegenden Ausgabe diskutiert und berücksichtigt. In die Geschichte eingegangen sind die sogenannten Nikisch-Becken, die der Dirigent am Höhepunkt der Coda des Finales in Takt 502 eigenmächtig einsetzte, der Einsatz aber durch Äußerungen des Komponisten gerechtfertigt erscheint, von Mengelberg dann übernommen wurde und so Eingang in die Partitur gefunden hat.
Mengelbergs Dirigierpartitur findet sich im Anhang ausschnitthaft als Faksimile. Sie dokumentiert die drastischen Kürzungen im Finale, die nahezu den gesamten Durchführungsteil eliminieren und die in der Partitur alternativ abgebildet sind. Aufgrund eines Treffens mit Tschaikowskys Bruder Modest im Jahr 1910 gilt Mengelberg als maßgebliche Instanz für die Interpretation,vor allem, was die Tempi betrifft.
So gerät die vorliegende Ausgabe zu einem Deutungsabenteuer, das zwar durch die vielen unterschiedlichen Quellenebenen nicht zur Eindeutigkeit beiträgt, dafür aber in aller Detailliertheit die verschlungenen Wirklichkeiten eines musikalischen Werks dokumentiert – ebenso fundamental wie spannend. Der Ausgabe liegen zugrunde die russische, französische und deutsche Erstausgabe, das Autograf und der danach gefertigte vierhändige Klavierauszug von Tschaikowskys Schüler Sergej Taneev sowie Skizzen, die in Moskau beherbergt sind. Als Hauptquelle dient dabei die vom Komponisten persönlich Korrektur gelesene russische Erstausgabe von 1888, die aber vielfach vom Autograf aufgrund dynamisch klarerer Angaben korrigiert wird. Verlagshaus und Herausgeber lassen mit der Ausgabe keine Urtextwünsche offen.
Steffen A. Schmidt

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