Gustav Mahler
Symphonie Nr. 4
nach dem Text der Neuen Kritischen Gesamtausgabe (2021), hg. von Renate Stark-Voit, Studienpartitur/Klavierauszug
Sie ist diejenige Sinfonie von Gustav Mahler mit der kleinsten Besetzung und (zusammen mit der ersten Sinfonie) kürzesten Dauer von knapp einer Stunde, aber sie ist deshalb gerade nicht die am leichtesten verständliche. Ist sie nur ein Als-ob, wie Adorno meinte, gar der Gegenentwurf einer Metaphysik, die etwa in der Zweiten zum Tragen kommt? Und wie verhält sie sich zu ihrer Vorgängerin, der monumentalen dritten Sinfonie, der längsten Mahlers, in der Musik der Vierten schon vorweggenommen wird und in der das Finale ursprünglich einmal als Satz „Was mir das Kind erzählt“ vorgesehen war? Und wieso taucht in der Mitte des ersten Satzes das Trompetensignal auf, das dann die fünfte Sinfonie eröffnen wird? Fragen über Fragen zu einer Musik, die es in sich hat, obwohl sie bei oberflächlicher Betrachtung so viel leichter und gefälliger anmutet als die drei Sinfonien zuvor.
Im Vorwort der neuen Edition der Neuen Kritischen Gesamtausgabe zitiert die Herausgeberin Renate Stark-Voit einige Aussagen Mahlers zu diesem Werk, erfreulicherweise ohne eine eigene dezidierte Werkdeutung mitzuliefern. Wie bei allen Komponisten, so sind auch bei Mahler eigene Bemerkungen zu eigener Musik Material für die Werkinterpretation und nicht deren Ersatz. Im Fall des Finales der Vierten gibt es dazu ja auch ein Klangdokument, denn der Komponist hat dieses für eine Klavierrolle eingespielt. Auffällig sind das fließende Tempo und die Rubati bei Mahlers Spiel. Selbstverständlich gehört zu einer angemessenen Deutung eines musikalischen Kunstwerks immer ein verlässliches Notenmaterial – und das liegt auch im Fall der vierten Sinfonie jetzt in der handlichen Form als Studienpartitur (und für die Sängerin auch in Gestalt eines Klavierauszugs des Finales) vor.
Mahler, Komponist und Dirigent, hat die Partituren seiner Werke immer wieder verändert, um seine Vorstellungen immer noch besser zum Ausdruck zu bringen. Das macht bei den vielen Quellen die Edition nicht einfach. Grade bei der vierten Sinfonie, so betont die Herausgeberin Renate Stark-Voit im Vorwort, habe Mahler so viel revidiert wie in wenig anderen seiner Werke.
Die neue (Studien-)Partitur legt nun einen gut lesbaren und schlüssig konzipierten Notentext vor, der Mahlers „letzten Willen“ bei dieser Sinfonie dokumentiert. Für alle, die sich mit dieser vierten Sinfonie beim Studium der Partitur oder Mitverfolgen des Notentextes im Konzert oder beim medialen Hören intensiver beschäftigen wollen, ist diese neue Edition eine verdienstvolle und optimale Grundlage.
Karl Georg Berg