Gustav Mahler

Symphonie Nr. 4

Neue Kritische Gesamtausgabe Bd. 4, Partitur

Rubrik: Rezension
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 67

Es mutet auf den ersten Blick beinahe kurios an, wenn eine Partitur etwa um ein Viertel kürzer ist als der sie umschließende und erklärende Text. So nun der Fall bei der gewaltig anmutenden Partitur-Neuausgabe der 4. Symphonie von Gustav Mahler, welche die Musikwissenschaftlerin Renate Stark-Voit im Rahmen der Neuen Kritischen Gesamtausgabe herausgab.
Bevor man an die ersten Seiten der sehr übersichtlich gestalteten und bestens lesbaren Partitur gelangt, kämpft man sich zunächst durch ein 81-seitiges, zweisprachiges Vorwort, das wohl kaum etwas auslässt, was in den vergangenen 120 Jahren an Informationen über diese Symphonie gesammelt und geschrieben wurde: ein wahres Füllhorn an Fakten. Nach der Vorbemerkung taucht man ein in die mit über 160 Fußnoten und Anmerkungen gespickte Entstehungsgeschichte der Vierten mit ausgewählten Daten, liest Aspekte zu Drucklegung und Aufführungsgeschichte und erfährt Erhellendes zur Edition und Aufführungspraxis.
Dann vertieft man sich in das Notenbild, versenkt sich in Bemerkenswertem über Tempo und Agogik, über genaue Spielanweisungen der Streicher wie Fingersätze, Stricharten, zur Paukenstimmung und zum Instrumentarium. Dem Ganzen folgen zahlreiche Abbildungen von autografen Reinschriften, ersten Korrekturabzügen, dem Erstdruck, Programmanzeigen, dem Faksimile des maschinengeschriebenen Vertrags Mahlers mit der Universal-Edition und einigen von ihm bezeichneten Stimmen. Vor dem eigentlichen Notentext dankt die Herausgeberin den zahlreichen Bibliotheken und Beteiligten. Das Besondere: „Dieser Band ist in liebevollem Andenken Mariss Jansons gewidmet, der in persönlichen Gesprächen an den Editionsarbeiten regen Anteil genommen und mir wertvolle Einblicke in seine persönliche Dirigierpartitur der Vierten gewährt hat“, so Stark-Voit.
Bei soviel Text hat leider der Druckteufel zugeschlagen: Ausgerechnet im Titel vorne zählt die englische Übersetzung „Five Movements“. Nach dem nicht in Originalgestalt abgedruckten Gesangstext folgt der mit über 120 Seiten ebenfalls zweisprachige Kritische Bericht mit zahllosen handschriftlichen und gedruckten Quellen und deren sehr ausführlichen Beschreibungen, ihrer Chronologie und Bewertung. Ihnen folgt die fassungslos machende Mammutarbeit der Einzelanmerkungen.
Unaufmerksam war man hoffentlich nur bei der Anweisung Mahlers an den Dirigenten: Er selbst schreibt (Abbildung, S. XLIV): „Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Sängerin äußerst discret begleitet wird“. In der Partitur (S. 127) ist lediglich das „äußerst“ einfach unterstrichen, das „discret“ erscheint fälschlicherweise mit einem „k“ – ebenso in der Quellenbeschreibung (S. 181) sowie in der englischen Übersetzung (S. 239). Nur hier wird zudem das „diskret“ gar doppelt unterstrichen.
Die vorzüglich gedruckte Partitur wird in ihrer Fülle an Erkenntnissen mit den zahlreichen „Regieanweisungen“ Mahlers für die kommenden Jahre trotzdem die Referenzausgabe sein.
Werner Bodendorff