Werke von Camille Saint-Saëns, Francis Poulenc und Charles-Marie Widor

Christopher Jacobson (Orgel), Orchestre de la Suisse Romande, Ltg. Kazuki Yamada

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Pentatone
erschienen in: das Orchester 12/2019 , Seite 67

Die Royal Albert Hall steht bekanntlich in London. Und die „Victoria Hall“? Ein repräsentatives Konzertsaal-Gebäude dieses Namens befindet sich überraschenderweise im schweizerischen Genf. Es wurde von 1891 bis 1894 auf Initiative des ortsansässigen, musikliebenden britischen Konsuls Daniel Fitzgerald Barton errichtet und nach einem Brand im Jahr 1984 restauriert. Genutzt wird die Victoria Hall vor allem vom Orchestre de la Suisse Romande, das an diesem Ort auch die Werke der hier vorliegenden CD-Neuveröffentlichung eingespielt hat.
Von vornherein war der Konzertsaal mit einer Orgel ausgestattet, erbaut von Thomas Kuhn (Zürich) und bei der Einweihung von keinem Geringeren gespielt als von Charles-Marie Widor. Den Brand von 1984 überstand diese Orgel zwar nicht, doch wurde sie danach durch ein Instrument der niederländischen Firma Van den Heuvel ersetzt, welche sich am Klangideal des berühmten französischen Orgelbauers Cavaillé-Coll aus dem 19. Jahrhundert orientiert.
Und so erweist sich die Victoria Hall samt ihrer großen Konzertorgel als höchst geeigneter Ort für die vorliegende Einspielung, die Camille Saint-Saёns’ Orgelsymphonie wie auch Francis Poulencs zwar dem zwanzigsten Jahrhundert angehörendes, doch die Tradition des neunzehnten nicht verleugnendes g-Moll-Orgelkonzert zum Raumklang-Erlebnis werden lässt.
In Saint-Saёns’ origineller c-Moll- Sinfonie op. 78 hat die Orgel nach diskreten Beiträgen zum „Poco Adagio“ ihren ersten markanten Auftritt freilich erst im Finale. Mit einem strahlenden C-Dur-Dreiklang meldet sich hier der Organist Christopher Jacobson zu Wort und beendet den „Durch Nacht zum Licht“-Weg dieses Werks, welchen das Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Kazuki Yamada zuvor grüblerisch und kämpferisch beginnen ließ, freilich nicht mit Beethoven’schem Ingrimm, sondern immer abgemildert durch einen Schuss französischer Eleganz.
Als nicht weniger originell erweist sich Francis Poulencs g-Moll-Orgelkonzert: In seinem Solo-Beginn wirkt es als hochpathetische Reminiszenz an Bachs g-Moll-Fantasie BWV 542, bevor es in der Folge die beiden Seiten von Poulencs künstlerischem Profil zeigt: im „Allegro deciso“ die Aufgeschlossenheit für die Unterhaltungsmusik, die der Komponist mit den übrigen Zeitgenossen der Groupe de Six teilte, doch auch die ab den 1930er Jahren bei ihm vermehrt hervortretende Spiritualität, die den „Andante moderato“-Abschnitt des einsätzig-mehrteiligen Werks prägt.
In einer Art von Bonus-Track am Schluss der CD hat Christopher Jacobson einen Solo-Auftritt: Mit der gravitätisch vorgetragenen und doch innerlich voll Energie pulsierenden Final-Toccata aus Widors fünfter Orgelsymphonie erinnert er an die Einweihung der ursprünglichen Orgel in der Victoria Hall durch Widor im Jahr 1894.
Gerhard Dietel