Brahms, Johannes
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73
Seit der Gründung im Jahr 1950 ist die im ostwestfälischen Herford beheimatete Nordwestdeutsche Philharmonie mittlerweile zu einem angesehenen Klangkörper herangewachsen. Heute ist das 78-köpfige Orchester nicht nur regelmäßig in den norddeutschen Konzertsälen zu Gast, sondern zugleich auch ein bedeutender deutscher Kulturträger innerhalb und außerhalb Europas. Im Jahr 2005 tourte das Orchester durch die USA. Mit dem Dirigenten Theodore Kuchar am Pult stand dabei auch Brahms 2. Sinfonie D-Dur op. 73 auf dem Programm. In der Mechanics Hall in Worcester entstand ein Rundfunkmitschnitt, den MDG nun hier in Deutschland auf CD veröffentlicht hat.
Theodore Kuchar liegt bei seiner Herangehensweise viel daran, die Übergänge, die musikalischen Schnittstellen und strukturellen Gliederungspunkte des Werks deutlich zu machen. Sehr gerne staut er hier die Bewegung, hält den Zielton der Phrase zurück und setzt damit auf ein gewisses Überraschungsmoment. Das und überhaupt sein feinnerviges Modellieren der musikalischen Charaktere bekommt der 1877 in der Sommerfrische in Pörtschach geschaffenen D-Dur-Sinfonie, die im Gegensatz zur kurz zuvor endgültig fertiggestellten und eher schroff, leidenschaftlich und ungestüm gehaltenen c-Moll-Sinfonie eine unbeschwerte, liebliche und idyllische Atmosphäre auslebt, nicht schlecht.
Auch mit der Agogik weiß Kuchar sehr biegsam umzugehen und sie zur gezielten Vorbereitung wechselnder Motiv- und Figurengruppen, aber auch zur eigenwilligen Herauslösung von Phrasenbögen einzusetzen. In der Coda des Kopfsatzes allerdings scheint seine Nachgiebigkeit in Sachen Temponahme doch etwas zu expansiv zu geraten, hier kommt die Bewegung fast zum Stillstand. Man hätte von der Deutung des Einleitungssatzes her annehmen können, dass Kuchar der schwärmerische Ausdruck des zweiten Satzes (Adagio non troppo) mehr am Herzen läge. Hier aber hält er sich anfangs merklich zurück und bleibt bei einer durchaus feinsinnigen, aber die Empfindung doch eher verschämt zurückhaltenden Sichtweise. Erst später im energiegeladenen Mittelteil kommt Bewegung und Emotion ins Spiel.
Gerne setzt Kuchar auf übertrieben ausgereizte dynamische Kontraste: Im Allegretto grazioso springt er von einem bis dahin ausgesprochen lieblich ausmodellierten Klanggemälde in Takt 144 unvermittelt und provozierend in den scharf geschnittenen neuen musikalischen Gedanken. Auch im Finalsatz hält Kuchar sein Orchester zu Beginn dynamisch auf der untersten Ebene, um dann in Takt 15 geradewegs explosionsartig auf den wachrüttelnden Knalleffekt zu setzen. Geschmeidige Übergänge und ein organischer Spannungsauf- und -abbau finden sich wie schon im Kopfsatz auch hier, und die Nordwestdeutsche Philharmonie kann ungeachtet sich immer wieder einmal einschleichender leichter Ungenauigkeiten, die dem Livemitschnitt geschuldet sind durch Homogenität, Plastizität und Prägnanz überzeugen. So sauber strukturiert, so wenig tumultuös hört man die Coda des Allegro con spirito wahrlich nicht immer.
Thomas Bopp