Anton Bruckner

Symphonie Nr. 2 c-Moll (Fassung 1877)

Philharmonie Festiva, Ltg. Gerd Schaller

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 5/2024 , Seite 71

Unter den großen Bruckner-Dirigenten ist Gerd Schaller, Jahrgang 1965, ein Phänomen. Nach festen Engagements in Hannover, Braunschweig und Magdeburg ist der gebürtige Bamberger seit 2006 freischaffend tätig und konzentriert sich auf die Musik Anton Bruckners sowie weniger weiterer Komponisten. Während Schaller jenseits von Bruckner auf Entdeckungsreise zu unbekannten Werken geht, sucht er beim großen Meister der spätromantischen Sinfonik nach enzyklopädischer Gesamtheit in möglichst idealer Ausführung. Dazu hat Schaller die „Philharmonie Festiva“ als Festivalorchester für den Ebracher Musiksommer gegründet und spielt mit dieser seit 2011 einen kompletten Bruckner-Zyklus ein. Das bedeutet nicht nur eine Aufnahme pro Sinfonie, sondern für jede der vielen verschiedenen Fassungen.
Neu erschienen ist in dieser Edition nun eine Einspielung der späten Version der zweiten Sinfonie c-Moll, die als letzte der „frühen“ Sinfonien Anton Bruckners meistens im Schatten ihrer Nachfolgerinnen steht und seit ihrer Entstehung keinen besonders guten Ruf genießt. Zu Unrecht, findet Gerd Schaller, der in einem lesenswerten Interview im Beiheft ein flammendes Plädoyer für die Zweite hält. Während zum Beispiel im Begleitbuch zu einer Gesamtedition der Berlin Philharmoniker ungeniert von „ungeschickter Faktur“ die Rede ist, verteidigt Schaller die jähen Brüche, Wiederholungen, emotionalen Wechselbäder und nicht zuletzt die langen Pausen, die dem Werk den wenig schmeichelhaften Titel Pausensinfonie eingetragen haben.
Der Dirigent macht in Worten wie in seiner Einspielung deutlich, dass diese „Sinfonie des Übergangs“ Geltung beanspruchen kann, auch wenn sie manchmal „noch“ nahe bei Schubert ist. Sie will für sich gelesen werden und nicht mit Blick auf spätere Sinfonien. Dem Problem der Spannungspausen begegnet die Aufnahme durch einen nicht unerheblichen Nachhall, den die ehemalige Zisterzienserkirche in Ebrach natürlicherweise zu bieten hat. Aus überlangen Pausen werden so sinnhafte Zäsuren.
Ohne zu nivellieren, gelingt es Gerd Schaller und der Philharmonie Festiva, die Kontraste der zweiten Sinfonie in den Kontext des gesamten Werkes einzuordnen. Wer genau in dem Orchester mitspielt, ist nirgendwo nachzulesen, aber die Qualität lässt darauf schließen, dass es sich um herausragende Musikerinnen und Musiker handeln muss. Sie entwickeln gemeinsam einen eigenen Klang, der zart und verletzlich ist und doch von leuchtendem Schmelz bekrönt. Dieser Bruckner ist nicht weit weg von Mahler – und eben von Schubert. Das Meisterstück ist der zweite Satz, ein großer, weiter Gesang, in dem die orgelartige Registerstruktur von Bruckners Instrumentation besonders gut zur Geltung kommt. Im tatsächlich zerfahrenen letzten Satz hingegen überzeugt etwa die unruhig wispernde Lesart von Günter Wand mit dem Kölner Rundfunkorchester mehr als die sehr direkt dreinfahrende Interpretation von Gerd Schaller und der Philharmonie Festiva.
Johannes Killyen

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