Gustav Mahler
Symphonie Nr. 1
für Orchester, hg. von Christian Rudolf Riedel
Dem Verlagsjubiläum von Breitkopf & Härtel im Jahr 2019 ist die Neuausgabe von Gustav Mahlers erster Symphonie mit dem Beinamen „Der Titan“ zu verdanken. Zum einen wirkte Mahler zwischen 1886 und 1888 als Kapellmeister am Leipziger Stadttheater, zum anderen komponierte er dort seine beiden ersten Symphonien. Bewunderer wie Kenner der Werke Mahlers fragen sich nun aber zu Recht, wozu eine Neuausgabe von einem Werk, das bereits vor Jahrzehnten im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erschienen war.
Die Antwort liegt wie so oft im Detail, insbesondere an Mahlers prozesshafter Komponierweise mit seinen ständigen Revisionen und Retuschen sowie der immer noch „komplizierten und teilweise verworrenen Quellenlage“, wie uns Herausgeber Christian Rudolf Riedel zu verstehen gibt. Die außergewöhnliche Menge an aufzuarbeitendem Quellenmaterial und die erst später bekannt gewordenen, weiteren Quellen machen es den Herausgebern schier unmöglich, einen endgültigen und verlässlichen Notentext abzuliefern.
Die erste Kritische Ausgabe als Standardtext hat zumindest dafür gesorgt, dass sich Mahlers Symphonien im Konzertleben etablieren konnten. Sie haben eine Renaissance ausgelöst, obwohl manche Benutzer wegen Unstimmigkeiten zwischen der oft revidierten Partitur und dem Aufführungsmaterial vor manch praktischen Problemen standen. Weiterer Nachteil der alten Ausgaben: Wegen der unterschiedlichen und nicht mehr zeitgemäßen Stichbilder waren die Revisionen kaum mehr zu unterscheiden.
Vorliegende Ausgabe behebt diese und andere Mängel und verfolgt „in erster Linie praktische Anliegen“. Der nun großformatige Neusatz von Partitur und Stimmenmaterial, der in Zusammenarbeit mit Bibliothekaren führender Orchester durchgeführt wurde, sorgt erstmals für optimale Lesbarkeit, Einheitlichkeit und ein besseres Orientierungssystem mit Stichnoten, Zählhilfen und strukturelle Pausen. Zu weiteren praktischen Aspekten gehören auch die transponierten Stimmen anstelle der nicht mehr gebräuchlichen Wechselinstrumente.
Es war eine erneute kritische Durchsicht geboten, womit eine große Anzahl von weiteren Präzisierungen des Notentexts erzielt wurde, deren anerkennenswerte Ergebnisse im sechsspaltigen Revisionsbericht und in vierspaltigen Einzelangaben nachzulesen sind. Den Dirigenten erwartet ein zweisprachiges, sehr informatives Editorial, in dem die Vorgehensweise des Herausgebers erläutert wird. Dem folgt aus der Feder des Mahler-Experten Constantin Floros ein spannender Beitrag über „Mahler als Symphoniker“ sowie die sehr ausführliche Geschichte der ersten Symphonie.
Vor dem sehr sauberen, klaren und übersichtlichen Notentext, der alle Kriterien moderner Editionspraxis bestens erfüllt, ist außerdem die genaue Besetzungsliste mit der ungefähren Aufführungsdauer wiedergegeben.
Eine Ausgabe, einem solchen Verlagsjubiläum – 300 Jahre! – mehr als würdig, die hoffentlich den Weg in die Orchester findet.
Werner Bodendorff