Anton Bruckner

Symphonie Nr. 1 c-Moll WAB 101

Staatskapelle Dresden, Ltg. Christian Thielemann

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Profil, Edition Günter Hänssler
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 73

Der 200. Geburtstag Anton Bruckners am 4. September 2024 scheint noch weit, doch nimmt die Anzahl der Einspielungen seiner Symphonien gefühlt schon langsam zu. Christian Thielemann hat unabhängig davon immer wieder auch mit anderen namhaften Orchestern und als Chefdirigent „seiner“ Staatskapelle weitere Werke des Oberösterreichers teils mehrfach eingespielt. So beispielsweise 2015 dessen „Romantische“ mit besagter Staatskapelle oder Ende 2016 die Siebente mit den „Berlinern“.
Für einen Konzertmitschnitt im September 2017 in der Dresdner Semperoper wählte er die erste „giltige“ Symphonie aus und zwar die revidierte Linzer Fassung von 1877. Diese ist ursprünglicher – wenn auch nicht die Urfassung von 1865 – und hat im Gegensatz zur endgültigen „Alters“-Fassung ihre Jugendlichkeit, ihre naive Unschuld noch nicht verloren. Außerdem spiegelt sie den damaligen Stand seiner sinfonischen Entwicklung am besten wider, wo im Kopfsatz sein Personalstil sich erst zu entfalten beginnt und auch Richard Wagners Einflüsse, insbesondere aus dessen Tannhäuser, zu hören sind. Manche Kenner sprechen gar davon, die Linzer Fassung sei die bessere, weil Bruckner viel zu sehr auf gutgemeinte, aber nicht auf gute Ratschläge gehört hatte. Er selbst nannte sie liebevoll sein „keckes Beserl“, weil insbesondere der Finalsatz relativ ungestüm daherkommt und der damals bereits 41-Jährige bei der Komposition nie mehr „so kühn und keck“ gewesen sei – Gründe, warum diese bis heute öfter als die erst 1891 abgeschlossene Wiener Fassung eingespielt worden ist.
Tatsächlich dirigiert sie Thielemann von den ersten, marschmäßigen Takten an mit schwungvollem und vorwärtsdrängendem Elan. Die Tempi kommen mit knapp 50 Minuten Spieldauer äußerlich ebenso frisch daher, was im Vergleich zu jüngeren Aufnahmen keine Ausnahme ist. Einzig der große Bruckner-Dirigent Eugen Jochum peitschte in den 1960er Jahren die Symphonie in knapp 47 Minuten durch.
An keiner Stelle scheint die Musik stillzustehen, verschwendet wenig Gedanken an innere Einkehr und Abgeklärtheit, so, wie der Hörer dies von den späteren Symphonien her kennt. Die teils Schubert’sche Melodik im langsamen Satz ist farbig durch die verschiedenen, klanglich bestens positionierten Holz- und noch zurückhaltend eingesetzten Blechbläser verschönert. Die markanten Höhepunkte geraten dadurch etwas weniger polarisierend, durch den homogen klingenden Streicherapparat wirken sie im Gegenteil ebenmäßig und ehrlich.
Um so wilder dagegen das Scherzo, dessen Tempi ungestüm und durchdringend intensiv wirken, aber durchaus zur Bezeichnung des „kecken Beserl“ passen, wenn auch Bruckner mit der Bezeichnung eher den Finalsatz gemeint haben soll. Auch dieser steht in der Interpretation von Thielemann in seiner Aussagekraft den übrigen Sätzen in nichts nach. Dennoch lässt er die Musik insbesondere in den ruhigen Stellen, in denen Bruckner neue Luft zu holen scheint, mit viel Noblesse ruhig atmen.
Werner Bodendorff