Peter Tschaikowsky / Jonathan Leshnoff

Symphonie No. 4 / Double Concerto for Clarinet and Bassoon

Pittsburgh Symphonie Orchestra, Ltg. Manfred Honeck

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Fresh Reference Recordings
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 71

Erst stutzt man. Warum stehen die Solisten des Doppelkonzerts für Klarinette und Fagott von Jonathan Leshnoff (*1973) nicht auf dem Cover? In der Ausstattung der CD des Pittsburgh Symphony Orchestra waltet trotzdem vorbildliche Genauigkeit nicht nur bei den umfangreichen Interviews und Werkeinführungen, sondern vor allem in der Auflistung der Orchestermitglieder. Da ist sogar kenntlich gemacht durch ein T und/oder ein L, ob sie bei einem oder bei beiden Werken mitspielten. Und richtig: Die Namen der Klarinettistin Nancy Goeres und des Fagottisten Michael Rusinek, deren Biografien im Booklet den gleichen Umfang haben wie jene von Komponist und Chefdirigent, findet man bei ihren Instrumenten, und darunter sind, wie bei den anderen Positionen jeweils auch, die Namen der Sponsoren bzw. Stifter für die jeweiligen Stelleninhaber angegeben.
Diese CD ist erstaunlich, weil das nordamerikanische Spitzenorchester mit der imposanten Chefdirigentenreihe von Fritz Reiner bis Mariss Jansons unter Leitung seines derzeitigen künstlerischen Leiters Manfred Honeck zwei vollkommen verschiedene Klanggesichter zeigt, ohne sich der dunkel ausladenden Glut von Tschaikowskys Orchestration willenlos auszuliefern.
Im Solokonzert von Jonathan Leshnoff, der mit vier Symphonien, mehreren Solokonzerten und dem Oratorium Zohar hervorgetreten ist, gehen diese beiden hervorragenden Solisten in den Instrumentengruppen richtiggehend auf. Vor allem der Schlusssatz ist nach einem melodisch-liedhaften ersten und dem als zügige Miniatur angelegten zweiten Satz ein transparentes Stück von verspieltem und dabei keineswegs zurückhaltendem Reiz. Leshnoff begibt sich nur selten aus tonalen Bahnen heraus in mutigere Harmoniesphären, weiß zu instrumentieren und bietet intelligentes wie herausforderndes Material. So wird sein Doppelkonzert auf dieser CD zum wirkungsvollen Divertimento nach der russischen „Schicksalssymphonie”. Honeck setzt den Begriff „Schicksal“ ins Zentrum seiner Interpretation einer Partitur, für die Tschaikowsky selbst kein Programm fixierte und die doch zu Spekulationen über einen verborgenen Gehalt herausfordert. Tschaikowskys zögerliche Eheschließung und schnelle Trennung von Antonina Iwanowna Miljukowa bieten auch heute noch Stoff für Verquickungen von Werk und Biografie.
Honeck treibt das Orchester in alle Zerwühlungen und Aufbäumungen, die Tschaikowskys Musik zugeschrieben werden. Er kokettiert mit den Vorurteilen: die manisch gesteigerte Melodienwut und veräußerlichte Dramatik. Aber zugleich relativiert Honeck und begibt sich – das geht mit dem Understatement dieser hervorragenden Musiker! – eher in eine mit Ungewissheit schwelende Erwartungshaltung als in eine distanzierende Abkühlung von Tschaikowskys symphonischen Brennstäben. Die fast sphärischen Streicherläufe und die durch sie ermöglichten feineren Abstufungen der Bläser klingen sensationell. Zugleich bleiben die möglichen Rauschwirkungen aus. Explosionen kommen also in dringliche, nicht aber bedrohliche Nähe der Hörer.
Roland Dippel